Das Haar in der Suppe
Kolumnen auf plus.ch
08.08.2017 – Halbe Sachen
Ihn profan als Autofan abzustempeln würde Klaus nicht gerecht werden. Er ist ein Autofanatiker, ein bekennender Auto-Aficionado. Das war schon zu Schulzeiten so. Während seine Kameraden davon träumten, einmal im Führerstand einer Krokodil-Lokomotive ins Tessin zu reisen und sie am Bahnhof eine eingestaubte Re 6/6 zärtlicher streichelten als sie es später je mit einer Freundin taten, kreisten Klausens Gedanken einzig um Blech gewordene Männerträume, und er zog den satten Sound eines hubraumstarken Achtzylinder-Muscle-Cars den Klängen der angesagten deutschen Schlager vor. (Das tut er übrigens noch heute, wenngleich er ein gewisses Faible für Helene Fischers Physis bekundet.)
So betrachtet ist sein Verhältnis zum ÖV leicht ambivalent. Einmal im Jahr jedoch ist die Bahn für den Individualverkehrsteilnehmer unentbehrlich. Dann nämlich, wenn er am Eröffnungstag an den Automobilsalon nach Genf pilgert. Beim nahezu lautlosen Vorbeiziehen pittoresker Seelandschaften entdeckt Klaus jeweils einen signifikanten Unterschied zwischen Schiene und Strasse: Würde ihm Justitia ihre Waagschalen um die Ohren knallen, wenn sie ihn Alkohol konsumierend im Auto ertappen würde, schwebt dieses Damoklesschwert im Zug nicht über ihm.
Den Höhepunkt seiner Bahnreise stellt jeweils das Vorzeigen des Billets dar. Dann nämlich zückt er voller Besitzerstolz sein Halbtaxabo und weist es, zusammen mit dem vor Reiseantritt am Bahnschalter (nicht im Internet!) erworbenen Fahrausweis, vor. Die Karte, die zu vergünstigtem Personentransport berechtigt, stellt in den Augen von Klaus ein Schweizer Grund- oder gar Menschenrecht dar, ganz egal, ob sie jemals amortisiert wird oder nicht. Ohne sie im Portemonnaie fühlt sich Klaus genauso nackt, verloren und seiner Rechte beraubt, wie ein strammer Soldat ohne Sturmgewehr im Schlafzimmerschrank.
Nach einem anstrengenden Ausstellungstag geniesst er es in vollen Zügen, sicher und bequem an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückchauffiert zu werden. Ohne Hektik, ohne Stress, ohne Stau … dafür mit einem Glas lauwarmem Weisswein in der Hand.
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07.07.2017 – Der kleine Unterschied
Bei Wahlen und Abstimmungen stellen Beobachter immer wieder ein Stadt-Land-Gefälle fest, welches je länger je mehr den früher so gern zitierten Röstigraben ablöst. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, lebe seit dreissig Jahren in einer Kleinstadt und habe beruflich oft in grösseren Städten zu tun. Deshalb ernenne ich mich hiermit kurzerhand selbst zum Experten für Stadt-Land-Diskrepanzen und stosse ins gleiche Horn wie die Politanalysten: Ja, es gibt dieses Gefälle. Und nein, es manifestiert sich nicht in erster Linie auf dem Stimmzettel, sondern auf dem Teller.
Egal, wo auf der Welt Sie sich aufhalten, irgendwann meldet sich Ihr Hunger zu Wort und bewegt Sie dazu, ein Lokal aufzusuchen. Auf dem Land betreten Sie eine Beiz, schauen sich um und setzen sich an einen freien Tisch. In der Stadt werden Sie für derartigen Frevel mit Verachtung bestraft. Sie treten ein und warten, bis eine Bedienung auf Sie zukommt und Sie fragt, ob sie reserviert hätten. (Dies gilt übrigens auch für Restaurants, in denen das Personal den Gästen zahlenmässig weit überlegen ist.) Wenn Sie verneinen, lässt die Servicefachperson ihren Blick durch den leeren Raum schweifen, bevor sie Ihnen einen Tisch zuweist. Serviert wird am einen Ort so viel, dass sich der Tellerrand bloss erahnen lässt, andernorts kunstvoll Angerichtetes mit viel Weissraum.
Nachdem man sich an Speis und Trank gütlich getan hat, folgt der für mich signifikanteste Unterschied zwischen Stadt und Land: die Gretchenfrage par excellence. In der Dorfbeiz erkundigt sich das Fräulein (ja, es gibt Orte, an denen die Bedienung noch immer so genannt werden darf und will): «Isch es gnue gsi?», während sein städtisches Pendant, die Pendlerin zwischen Cuisine und Gastraum sozusagen, kaum vernehmlich fragt: «Isch es guet gsi?» Besonders drollig mitzuerleben finde ich es, wenn sich der Besitzer eines Chauffeurenteller-Magens in einen Gourmethäppchen-Tempel verirrt und nach Erhalt der Rechnung blass das blasierte: «Isch es guet gsi?», mit einem in breitem Dialekt gesprochenen: «Danke, vo do han ig gnue gha!», quittiert.
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06.06.2017 – Fleischeslust In der Kindheit begleitete ich meine Mutter oft zum Einkaufen in den Dorfladen nebenan. Auf engstem Raum fand man dort alles, was es zum täglichen Leben braucht. Ich liebte den Duft ofenfrischen Brotes oder das verführerische Odeur, dessen Ursprung ich in der Kaffeemühle verortete. Gerüche, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen liessen. Das Highlight jedoch stellte jeweils der Besuch vis-à-vis in der Metzgerei dar.
Während sich Mutter von der Gattin des Besitzers beraten liess und nach aktuellen Aktionen fragte, zog die Charcuterie-Ecke meinen Blick magnetisch an. Dort verharrte er bei den Wurstwaren, die verführerisch darauf lauerten, bis Mutter bezahlt hatte und die Metzgerin endlich die Frage aller Fragen stellte: «Magst du ein Scheibchen Lyoner oder ein Ringlein vom Wienerli?» Schüchtern nickte ich jeweils, streckte meinen kurzen Kinderarm weit nach oben, um mit meinen Wurstfingern die Köstlichkeit von der Fleischgabel zu angeln, und quittierte Mutters «Wie sagt man?» mit einem schüchternen «Danke vielmal». Auf dem Nachhauseweg tat ich mich dann am göttlichen Geschmack Wurst gewordener Fleischeslust gütlich.
Neulich kramte ein kleines Mädchen an der Fleischtheke im Supermarkt, das mit vorfreudig starrem Blick auf die Auslage am Rockzipfel seiner Mutter hing, dieses vergessen geglaubte Gefühl aus dem verstaubten Archiv meiner Erinnerungen hervor. Ich sehnte mit ihm die Frage der Verkäuferin nach dem Wurststückchen herbei. Doch sie blieb aus. Enttäuscht zottelte das Kind mit seiner Mutter von dannen. Ich liess mich dazu hinreissen, die Verkäuferin darauf anzusprechen. «Ich würde den Kindern ja noch so gern ein Stückchen Wurst anbieten», klagte sie, «aber wir haben strikte Weisung, dies zu unterlassen.» Sie sprach vom Lebensmittelgesetz, von Hygienebestimmungen, von möglichen Allergien.
Ich zuckte mit den Schultern und kaufte zwei Wienerli. An der Kasse schmuggelte ich sie unbemerkt in die Einkaufstasche der Mutter und hoffte insgeheim, das kleine Mädchen würde zu Hause beim Auspacken mit strahlenden Augen an ein kleines Wunder glauben.
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05.05.2017 – Der neue NachbarWir sind bei Heinz und Vreni eingeladen. Die beiden sind wahrscheinlich die besten Gastgeber der westlichen Hemisphäre. Bei ihnen wird nicht nur gepflegt verpflegt, sondern richtig stilvoll geschlemmt.
Vreni trägt die Vorspeise auf. «Eine Auswahl von Antipasti. Ich kaufe sie jeweils beim Italiener auf dem Wochenmarkt. Er bereitet sie stets frisch nach einem Rezept seiner Grossmutter zu. Einfach köstlich!», schwärmt sie, und wenn der Geschmack hält, was das Aussehen verspricht, wird dieses Prädikat noch untertrieben sein. «Dazu ein leichter Weisswein aus der Veneto-Gegend», empfiehlt Heinz mit einem Funkeln in den Augen. Mit geübter Hand schenkt er ein. «Der Spanier in der Stadt ist ein echter Geheimtipp. Er konzentriert sich auf önologische Raritäten aus Italien, Frankreich, Spanien und Portugal», verrät der Hausherr. …
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08.08.2017 – Halbe Sachen
Ihn profan als Autofan abzustempeln würde Klaus nicht gerecht werden. Er ist ein Autofanatiker, ein bekennender Auto-Aficionado. Das war schon zu Schulzeiten so. Während seine Kameraden davon träumten, einmal im Führerstand einer Krokodil-Lokomotive ins Tessin zu reisen und sie am Bahnhof eine eingestaubte Re 6/6 zärtlicher streichelten als sie es später je mit einer Freundin taten, kreisten Klausens Gedanken einzig um Blech gewordene Männerträume, und er zog den satten Sound eines hubraumstarken Achtzylinder-Muscle-Cars den Klängen der angesagten deutschen Schlager vor. (Das tut er übrigens noch heute, wenngleich er ein gewisses Faible für Helene Fischers Physis bekundet.)
So betrachtet ist sein Verhältnis zum ÖV leicht ambivalent. Einmal im Jahr jedoch ist die Bahn für den Individualverkehrsteilnehmer unentbehrlich. Dann nämlich, wenn er am Eröffnungstag an den Automobilsalon nach Genf pilgert. Beim nahezu lautlosen Vorbeiziehen pittoresker Seelandschaften entdeckt Klaus jeweils einen signifikanten Unterschied zwischen Schiene und Strasse: Würde ihm Justitia ihre Waagschalen um die Ohren knallen, wenn sie ihn Alkohol konsumierend im Auto ertappen würde, schwebt dieses Damoklesschwert im Zug nicht über ihm.
Den Höhepunkt seiner Bahnreise stellt jeweils das Vorzeigen des Billets dar. Dann nämlich zückt er voller Besitzerstolz sein Halbtaxabo und weist es, zusammen mit dem vor Reiseantritt am Bahnschalter (nicht im Internet!) erworbenen Fahrausweis, vor. Die Karte, die zu vergünstigtem Personentransport berechtigt, stellt in den Augen von Klaus ein Schweizer Grund- oder gar Menschenrecht dar, ganz egal, ob sie jemals amortisiert wird oder nicht. Ohne sie im Portemonnaie fühlt sich Klaus genauso nackt, verloren und seiner Rechte beraubt, wie ein strammer Soldat ohne Sturmgewehr im Schlafzimmerschrank.
Nach einem anstrengenden Ausstellungstag geniesst er es in vollen Zügen, sicher und bequem an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückchauffiert zu werden. Ohne Hektik, ohne Stress, ohne Stau … dafür mit einem Glas lauwarmem Weisswein in der Hand.
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07.07.2017 – Der kleine Unterschied
Bei Wahlen und Abstimmungen stellen Beobachter immer wieder ein Stadt-Land-Gefälle fest, welches je länger je mehr den früher so gern zitierten Röstigraben ablöst. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, lebe seit dreissig Jahren in einer Kleinstadt und habe beruflich oft in grösseren Städten zu tun. Deshalb ernenne ich mich hiermit kurzerhand selbst zum Experten für Stadt-Land-Diskrepanzen und stosse ins gleiche Horn wie die Politanalysten: Ja, es gibt dieses Gefälle. Und nein, es manifestiert sich nicht in erster Linie auf dem Stimmzettel, sondern auf dem Teller.
Egal, wo auf der Welt Sie sich aufhalten, irgendwann meldet sich Ihr Hunger zu Wort und bewegt Sie dazu, ein Lokal aufzusuchen. Auf dem Land betreten Sie eine Beiz, schauen sich um und setzen sich an einen freien Tisch. In der Stadt werden Sie für derartigen Frevel mit Verachtung bestraft. Sie treten ein und warten, bis eine Bedienung auf Sie zukommt und Sie fragt, ob sie reserviert hätten. (Dies gilt übrigens auch für Restaurants, in denen das Personal den Gästen zahlenmässig weit überlegen ist.) Wenn Sie verneinen, lässt die Servicefachperson ihren Blick durch den leeren Raum schweifen, bevor sie Ihnen einen Tisch zuweist. Serviert wird am einen Ort so viel, dass sich der Tellerrand bloss erahnen lässt, andernorts kunstvoll Angerichtetes mit viel Weissraum.
Nachdem man sich an Speis und Trank gütlich getan hat, folgt der für mich signifikanteste Unterschied zwischen Stadt und Land: die Gretchenfrage par excellence. In der Dorfbeiz erkundigt sich das Fräulein (ja, es gibt Orte, an denen die Bedienung noch immer so genannt werden darf und will): «Isch es gnue gsi?», während sein städtisches Pendant, die Pendlerin zwischen Cuisine und Gastraum sozusagen, kaum vernehmlich fragt: «Isch es guet gsi?» Besonders drollig mitzuerleben finde ich es, wenn sich der Besitzer eines Chauffeurenteller-Magens in einen Gourmethäppchen-Tempel verirrt und nach Erhalt der Rechnung blass das blasierte: «Isch es guet gsi?», mit einem in breitem Dialekt gesprochenen: «Danke, vo do han ig gnue gha!», quittiert.
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06.06.2017 – Fleischeslust In der Kindheit begleitete ich meine Mutter oft zum Einkaufen in den Dorfladen nebenan. Auf engstem Raum fand man dort alles, was es zum täglichen Leben braucht. Ich liebte den Duft ofenfrischen Brotes oder das verführerische Odeur, dessen Ursprung ich in der Kaffeemühle verortete. Gerüche, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen liessen. Das Highlight jedoch stellte jeweils der Besuch vis-à-vis in der Metzgerei dar.
Während sich Mutter von der Gattin des Besitzers beraten liess und nach aktuellen Aktionen fragte, zog die Charcuterie-Ecke meinen Blick magnetisch an. Dort verharrte er bei den Wurstwaren, die verführerisch darauf lauerten, bis Mutter bezahlt hatte und die Metzgerin endlich die Frage aller Fragen stellte: «Magst du ein Scheibchen Lyoner oder ein Ringlein vom Wienerli?» Schüchtern nickte ich jeweils, streckte meinen kurzen Kinderarm weit nach oben, um mit meinen Wurstfingern die Köstlichkeit von der Fleischgabel zu angeln, und quittierte Mutters «Wie sagt man?» mit einem schüchternen «Danke vielmal». Auf dem Nachhauseweg tat ich mich dann am göttlichen Geschmack Wurst gewordener Fleischeslust gütlich.
Neulich kramte ein kleines Mädchen an der Fleischtheke im Supermarkt, das mit vorfreudig starrem Blick auf die Auslage am Rockzipfel seiner Mutter hing, dieses vergessen geglaubte Gefühl aus dem verstaubten Archiv meiner Erinnerungen hervor. Ich sehnte mit ihm die Frage der Verkäuferin nach dem Wurststückchen herbei. Doch sie blieb aus. Enttäuscht zottelte das Kind mit seiner Mutter von dannen. Ich liess mich dazu hinreissen, die Verkäuferin darauf anzusprechen. «Ich würde den Kindern ja noch so gern ein Stückchen Wurst anbieten», klagte sie, «aber wir haben strikte Weisung, dies zu unterlassen.» Sie sprach vom Lebensmittelgesetz, von Hygienebestimmungen, von möglichen Allergien.
Ich zuckte mit den Schultern und kaufte zwei Wienerli. An der Kasse schmuggelte ich sie unbemerkt in die Einkaufstasche der Mutter und hoffte insgeheim, das kleine Mädchen würde zu Hause beim Auspacken mit strahlenden Augen an ein kleines Wunder glauben.
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05.05.2017 – Der neue NachbarWir sind bei Heinz und Vreni eingeladen. Die beiden sind wahrscheinlich die besten Gastgeber der westlichen Hemisphäre. Bei ihnen wird nicht nur gepflegt verpflegt, sondern richtig stilvoll geschlemmt.
Vreni trägt die Vorspeise auf. «Eine Auswahl von Antipasti. Ich kaufe sie jeweils beim Italiener auf dem Wochenmarkt. Er bereitet sie stets frisch nach einem Rezept seiner Grossmutter zu. Einfach köstlich!», schwärmt sie, und wenn der Geschmack hält, was das Aussehen verspricht, wird dieses Prädikat noch untertrieben sein. «Dazu ein leichter Weisswein aus der Veneto-Gegend», empfiehlt Heinz mit einem Funkeln in den Augen. Mit geübter Hand schenkt er ein. «Der Spanier in der Stadt ist ein echter Geheimtipp. Er konzentriert sich auf önologische Raritäten aus Italien, Frankreich, Spanien und Portugal», verrät der Hausherr. …
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