Und Herr Doktor schnurrt dazu
Immer, wenn mir das Wort Klatschtante begegnet, muss ich an Tante Josephine denken. Jede Woche traf sie sich mit einigen Damen aus dem Dorf zu Kaffee und Kuchen. In illusterer Runde strickten sie, lasen Magazine und klatschten über alle, die sie kannten, vom hässlichen, derben Wirt um die Ecke bis zur schönen, kultivierten Filmschauspielerin aus dem fernen Amerika.
Derweil wich der Herr Doktor nicht von Tante Josephines Seite. Herr Doktor war ein dröger Kater kolossalen Ausmaßes. Für uns stand immer fest, dass die Katze eines Tages platzen würde. Nur über das Wann spekulierten wir. Ob Herr Doktor sich aus eigener Kreft bewegen konnte, fanden wir nie heraus, denn stets wurde er von Tante Josephine getragen. Sie trug ihn mehrmals täglich zur rituellen Mästung in die Küche, sie trug ihn ins Badezimmer, damit er sich erleichtern konnte, und sie trug ihn des Abends in ihr Bett, das er als sein Territoriums für sich beanspruchte.
Den Tag verbrachte Herr Doktor asthmatisch schnurrend auf Tante Josephines Schoss. Sie streichelte ihn zärtlich und mit jener Akribie, mit der sie ihre Butterbrote zu schmieren pflegte. Den Takt dazu gab die Musik auf Radio Beromünster an. Seine Geräusche seien die reinste Medizin, sagte sie immer, und deshalb nenne sie die Katze Herrn Doktor. Als das Tier im biblischen Alter von 22 Jahren seinen letzten Atemzug getan hatte, überantwortete Tante Josephine seine sterblichen Überreste einem Kürschner, welcher ihr das Fell nur wenig später in tadellosem Zustand, zusammen mit einer unbescheidenen Rechnung, überreichte, worauf sämtliche alte Riten weiter vollzogen wurden – mit Ausnahme des Mästens und des Erleichterns.
Wir besuchten Tante Josephine sooft es ging. Sie hörte geduldig zu, wenn wir unser Herz ausschütteten, von der Schule berichteten oder vom Urlaub erzählten. Dann verwöhnte sie uns mit Vollmilch-Schokolade, die sie vorzugsweise direkt hinter dem Fenster in der prallen Sonne aufhob. Unnötig zu erwähnen, in welch desolatem Zustand sich die Süßigkeit befand, wenn sie in unsere Hände geriet. Aber schon bald begannen wir den Geschmack und die Konsistenz warmer, weicher Schokolade zu lieben.
Längst ist Tante Josephine tot. Und doch scheint sie uns zu begleiten. Als ich neulich durch die Stadt flanierte, kam ich an ein Kaffeehaus, vor dem junge Menschen sassen, an Kaffeespezialitäten nippten – einige davon waren sinnigerweise mit flüssiger Schokolade dekoriert –, den neuesten Klatsch austauschten und gedankenverloren in Büchern, Magazinen oder Zeitungen lasen. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte Espresso. Aus meiner Umhängetasche kramte ich ein Buch hervor und begann mich in die Zeilen zu vertiefen. Wie ich da so trank und las, war mir, als sässe mir Tante Josephine gegenüber. Und die Geräuschkulisse verschmolz zu einem monotonen Grundrauschen, das klang, als ob der Herr Doktor auf ihrem Schoss läge und asthmatisch schnurre.
Derweil wich der Herr Doktor nicht von Tante Josephines Seite. Herr Doktor war ein dröger Kater kolossalen Ausmaßes. Für uns stand immer fest, dass die Katze eines Tages platzen würde. Nur über das Wann spekulierten wir. Ob Herr Doktor sich aus eigener Kreft bewegen konnte, fanden wir nie heraus, denn stets wurde er von Tante Josephine getragen. Sie trug ihn mehrmals täglich zur rituellen Mästung in die Küche, sie trug ihn ins Badezimmer, damit er sich erleichtern konnte, und sie trug ihn des Abends in ihr Bett, das er als sein Territoriums für sich beanspruchte.
Den Tag verbrachte Herr Doktor asthmatisch schnurrend auf Tante Josephines Schoss. Sie streichelte ihn zärtlich und mit jener Akribie, mit der sie ihre Butterbrote zu schmieren pflegte. Den Takt dazu gab die Musik auf Radio Beromünster an. Seine Geräusche seien die reinste Medizin, sagte sie immer, und deshalb nenne sie die Katze Herrn Doktor. Als das Tier im biblischen Alter von 22 Jahren seinen letzten Atemzug getan hatte, überantwortete Tante Josephine seine sterblichen Überreste einem Kürschner, welcher ihr das Fell nur wenig später in tadellosem Zustand, zusammen mit einer unbescheidenen Rechnung, überreichte, worauf sämtliche alte Riten weiter vollzogen wurden – mit Ausnahme des Mästens und des Erleichterns.
Wir besuchten Tante Josephine sooft es ging. Sie hörte geduldig zu, wenn wir unser Herz ausschütteten, von der Schule berichteten oder vom Urlaub erzählten. Dann verwöhnte sie uns mit Vollmilch-Schokolade, die sie vorzugsweise direkt hinter dem Fenster in der prallen Sonne aufhob. Unnötig zu erwähnen, in welch desolatem Zustand sich die Süßigkeit befand, wenn sie in unsere Hände geriet. Aber schon bald begannen wir den Geschmack und die Konsistenz warmer, weicher Schokolade zu lieben.
Längst ist Tante Josephine tot. Und doch scheint sie uns zu begleiten. Als ich neulich durch die Stadt flanierte, kam ich an ein Kaffeehaus, vor dem junge Menschen sassen, an Kaffeespezialitäten nippten – einige davon waren sinnigerweise mit flüssiger Schokolade dekoriert –, den neuesten Klatsch austauschten und gedankenverloren in Büchern, Magazinen oder Zeitungen lasen. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte Espresso. Aus meiner Umhängetasche kramte ich ein Buch hervor und begann mich in die Zeilen zu vertiefen. Wie ich da so trank und las, war mir, als sässe mir Tante Josephine gegenüber. Und die Geräuschkulisse verschmolz zu einem monotonen Grundrauschen, das klang, als ob der Herr Doktor auf ihrem Schoss läge und asthmatisch schnurre.