Mit spitzer Feder
Kolumnen im Anzeiger Thal Gäu Olten
27. Dezember 2024 – 64: «Billig macht willig»
Gesucht, gefunden, angeklickt,
aus China in die Schweiz geschickt,
Shenzhen-Zürich über Nacht,
so schnell geht das per Flugzeugfracht.
Kerosin und CO2
sind manch Schweizer einerlei,
denn Geschenke müssen her,
gern gratis oder billiger.
Unterm Baum zur Weihnachtsfete
stapeln bunt sich die Pakete.
Mehr ist mehr und viel hilft viel
bei Plastik, E-Ramsch, Weihnachtsdeal.
Statt Besinnung, stille Nacht
startet die Geschenkeschlacht.
Einmal mehr zeigt sich recht schnell:
Liebe ist materiell.
Doch Vaters Pulli kratzt und juckt.
Es ist kein Qualitätsprodukt.
Die Drohne, Söhnchens grosser Traum,
zerschellt beim Jungfernflug am Baum.
Mutters neuer Parfümduft
verpestet kurzerhand die Luft.
Und Tochters Barbie, sieht sie schnell,
stammt aus Wuhan, nicht von Mattel.
Am nächsten Tag, bei Licht betrachtet,
ist alles, das man ausgeschlachtet,
nicht wie auf den Bildern «hot»,
sondern schlicht und einfach Schrott.
Wer hofft, es helfe die Beschwerde,
ist komplett auf der falschen Fährte.
Kein Kundendienst ist eingerichtet,
aus Kostengründen ward verzichtet.
Das Fazit ist profan, doch hart:
Es landen auf die schnelle Art
Drohne, Puppe, Duft und Tüll
im Sammelsack für Haushaltmüll.
Die Freude wich rasch dem Verdruss,
und man gelangte zum Entschluss,
weil heuer alles schiefgelaufen,
in Zukunft lokal einzukaufen.
Ich hoffe, das kommt nicht zu spät.
Das Wasser bis zum Halse steht
manch Laden der dafür geschätzt,
dass er auf Wert statt billig setzt.
Der Autor wünscht allen Leserinnen und Lesern eine ruhige Zeit «zwischen den Jahren» und nur das Beste fürs 2025.
10. Oktober 2024 – 63: «Das Backup»
Er ist kreidebleich, als ich ihm zufällig in der Stadt über den Weg laufe. Verzweiflung liegt in seinem Blick. Nein, sagt er, er sei weder krank noch arbeitslos. Die Ehe sei intakt, den Kindern gehe es gut. Trotzdem habe er heute sein halbes Leben verloren. Sein Smartphone sei tot, sämtliche Daten futsch. Tausende Fotos, die gesamten Chatverläufe, alles weg, auf ewig im digitalen Nirwana verschwunden. Es fühle sich an, als hätte man ihn seiner Erinnerungen beraubt. Er komme sich vor wie in einem dieser Filme, in denen Männer in schwarzen Anzügen Augenzeugen von Ufo-Sichtungen mit einem Blitzlichtstift das Gedächtnis löschen. «Da heisst es immer, das Internet vergisst nie, aber auf mich trifft das nicht zu. Alles verloren!», klagt er und trottet von dannen.
Bemerkenswert, wie sich unser Leben gewandelt hat. Gespräche sind Chats gewichen, Emotionen Emojis. Statt im Jetzt zu leben, Momente als flüchtig zu akzeptieren und sie aktiv zu geniessen, versuchen wir sie technisch zu konservieren, um sie später nachzuerleben. Bilder sind nicht mehr subjektive Eindrücke in unseren Köpfen, sondern eine schier unendliche Abfolge von Einsen und Nullen in Datenwolken. Dereinst werden wir unseren Enkelkindern wohl nicht mehr von früher erzählen, wie es unsere Ahnen taten, sondern sie durch unsere Bildergalerien swipen und scrollen lassen. Schade, denke ich, und tippe eine Notiz an mich selbst ins Handy: heute Abend Backup machen!
© 2024 by meinrad kofmel.
31. Juli 2024 – 62: «Der Leserreporter»
Seit Herbert von einer Boulevardzeitung fünfzig Franken für das verwackelte Video eines brennenden Autos auf dem Pannenstreifen der A1 bekommen hatte, herrschte bei ihm pure Euphorie. «Video: Leserreporter» stand unter seinem Werk. Ab diesem Moment glaubte er, im Beruf des Leserreporters seine Bestimmung gefunden zu haben. Er sei viel mit dem Auto unterwegs, verfüge über ein brandneues Handy und ein sicheres Auge für die kleinen und grossen Unglücke des Alltags, verkündete er.
Wir versuchten, ihn von seinem Plan abzubringen. Die Verlage hätten rasende Reporter entlassen und bedienten ihre Kanäle jetzt mit billigen, austauschbaren Bildern billiger, austauschbarer Zeitgenossen. Wertschätzung: Fehlanzeige. Doch je mehr Gegenwind ihm ins Gesicht wehte, desto fester stand Herberts Entschluss: Er würde sich fortan Harry nennen und als Leserreporter sehr, sehr viel Geld machen. Bilder von ihm würden schon bald überall die Titelseiten dominieren. Vielleicht, schwärmte er mit dem Ton eines Visionärs, würden ihm die Medien sogar einen vierstündigen Livestream vom Gotthardstau abkaufen. So könnten auch Daheimgebliebene das kollektive Gefühl des Nichtvorwärtskommens hautnah erleben.
Bild von ihm habe ich nur noch eines in den Medien gesehen. Gepostet wurde es von der Kantonspolizei. Es zeigte Herberts demoliertes Auto im Strassengraben und trug die lakonische Beschreibung: «Selbstunfall – Gaffer hantiert am Mobiltelefon und verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug.»
Der Autor wünscht allen unfallfreie Sommerferien und ein Auge fürs Schöne.
29. Mai 2024 – 61: «Das N-Wort»
Es sind verstörende Parolen, die der Wind vom Nebentisch zu uns herüberträgt. «So etwas wie die, hat hier nichts verloren!», poltert das filigrane, drahtige Persönchen, dem man ein derartiges Organ nicht zutrauen würde. «Kaum sind sie da, vermehren sie sich ungehindert, breiten sich überall aus und verdrängen die Einheimischen. Ich sage nur: weg damit!» Dazu macht sie eine bestimmte, keinen Widerspruch duldende Handbewegung, wie ein Dirigent beim Schlussakkord. «Aber Yvonne, wir haben sie doch selbst als Bereicherung hergeholt», versucht die Blondierte vis-à-vis zu beschwichtigen. «Papperlapapp! Wenn diese Ausländer da sind, schlagen sie Wurzeln und machen alles kaputt, was wir uns aufgebaut haben. Die müssen weg! Dieses Land gehört den Unsrigen. Allein, wenn ich manche von ihnen rieche, kriege ich Atemnot. Gegen die müsste der Bundesrat endlich etwas unternehmen.» «Hat er ja», versucht die Wasserstoffblonde zu intervenieren, «einige dürfen gar nicht mehr …» «Pah!», fährt ihr die in Rage gekommene ins Wort, «andere Länder gehen da viel kompromissloser vor. Australien oder Neuseeland. Das habe ich mit eigenen Augen im Fernsehen gesehen. Die dulden sie nicht, diese elenden N…» «Sag jetzt bloss nicht das böse N-Wort!», japst die Bonde panisch. «Die Leute sehen schon her.» «Na und? Sie gehören ausgerottet, diese elenden … Neophyten!» Ich atme kurz auf. Dann bleibt mir das Lachen im Hals stecken.
Trotzdem, der Autor erfreut sich ob der Italianità, die die Tessinerpalme hinter der Kirschlorbeerhecke verbreitet … solange sie noch darf.
4. April 2024 – 60: «Aromata non grata»
Wenngleich man sich noch nicht einig ist darüber, wie die 13. AHV finanziert werden soll, arbeitet das Bundesamt für Gesundheit mit Hochdruck daran, möglichst viele von uns möglichst lange davon profitieren zu lassen. Anders kann ich mir die Kampagnen zur Verbesserung der Volksgesundheit bei gleichzeitiger Verteufelung von Genuss-, Sucht- und Lebensmitteln nicht erklären. Alkohol- und Nikotinwerbung bellen nur noch mit Maulkorb. Rauchen tötet, steht auf jedem Tabakerzeugnis, und es dauert wohl nicht mehr lange, bis uns Bilder von Hemingway und Bukowski auf Schnapsflaschen vor dem Trinken warnen. Auch Salz ist des Leibhaftigen und gehört zu den aromata non grata. So kauen wir seit geraumer Zeit zwar faderes Brot, dies dafür aber potenziell länger.
Das aktuelle rote Tuch für die um unsere Gesundheit Besorgten ist der Zucker. Entsprechend nehmen sie die Getränkeindustrie an die Kandare und fordern weniger Zucker in Softdrinks. Während das süsse Gift früher nur die Zähne perforierte, bringt es uns heute in Raten um. Welch qualvolle Passion die Gesundheitsapostel beim Betreten von Lebensmittelläden vor Ostern erleiden mussten, lässt sich nur erahnen. Der Anblick gigantischer Berge von Schokoladeosterhasen, -enten, -küken, -eiern und neuerdings sogar -einhörnern und -dinosauriern muss für sie die reinste Folter gewesen sein. Ein veritabler Zuckerschock! Aber ich bin sicher, dass ihnen auch im Kampf dagegen etwas Patentes einfallen wird … vielleicht bei einem Gläschen Weissen in der Zigarettenpause.
Der Autor wünscht allen ein langes, gesundes und genussvolles Leben.
29. Februar 2024 – 59: «Postcash»
«Grosi, erzähl mir ein bisschen von früher», bettelte die Kleine. «Ach, Kind», begann die Grossmutter wehmütig, «früher war alles anders. Da gab es noch richtiges Geld. Cash.» «Was war ‹Cash›?», wollte die Kleine ungeduldig wissen. «Das waren Münzen aus Metall und Papiernoten, die einen bestimmten Wert hatten. Immer am Sechsten des Monats brachte der Briefträger meiner Oma die Rente in Geldscheinen und Münzen persönlich nach Hause. Oma machte ihm dann einen Kaffee und tauschte mit ihm den neusten Klatsch aus dem Quartier aus. Dann trug sie die gesammelten Einzahlungsscheine fein säuberlich in ein gelbes Büchlein ein, ging damit zur Post und bezahlte ihre Rechnungen. Ja, so war das früher mit der Post und dem Cash. Später kamen die Karten, die Chips und der biometrische Scan.»
Die Kleine kicherte ob eines witzigen Wortes. «Grosi, was war ‹die Post›?» Bevor die alte Frau zum Antworten kam, ertönte eine blecherne Stimme aus dem Bauch des Mädchens: «Stromversorgung kritisch, Ladezone aufsuchen!» Leeren Blickes tappte der humanoide Gesellschafter zu einem markierten Punkt in der Ecke, wo seine Augen rot zu blinken begannen. Das Licht wurde gedimmt, das automatische Pflegebett drehte die Grossmutter in Ruheposition und verabreichte ihr ein Schlafmittel. Solange ihr Konto noch gedeckt war, würde sie sich nicht vor einer Überdosis fürchten müssen. Die Alte schlummerte sanft ein und träumte von Banknoten, von Briefträgern, von der Post und von ihrer einstigen Leibspeise: Rösti.
Der Autor leert seinen Briefkasten täglich … solange er noch kann.
28. Dezember 2023 – 58: «Highway to Hell»
Wenn das Sprichwort zutrifft, wonach der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so lege ich Ihnen an dieser Stelle dringend ans Herz, diesen Pfad nicht einzuschlagen. Zumindest nicht in den nächsten Wochen. Bald finden nämlich auf dem Highway to Hell massive Unterhaltsarbeiten statt, die ein Durchkommen verunmöglichen werden. Die zu erwartenden Staus dürften die sommerlichen Blechlawinen am Gotthard weit in den Schatten stellen.
Gemeinsam mit unzähligen anderen werde auch ich in liebevoller Kleinarbeit minutiös meine Vorsätze fürs neue Jahr wie ein Mosaik auf die steinige Strecke setzen. Obwohl einmal mehr sowohl im Geschäft als auch privat tausend kleine Dinge unbedingt vor Weihnachten erledigt sein mussten – erfahrungsgemäss geht ja an Silvester jeweils die Welt unter, und wir wollen dem Universum kein Chaos hinterlassen –, glaube ich an eine Zukunft und setze mir hehre Ziele. Waage und Kleiderschrank weisen mich gnadenlos darauf hin, dass ein paar Pfunde purzeln müssen, das Wetterknie schreit nach Bewegung, mein Kreislauf nach Kondition.
Zum Jahresanfang verbuchen Fitnesscenter Rekordumsätze, sind Diätbücher vergriffen, Joggingstrecken bevölkert, droht der Tabakindustrie und den Weinbauern das Aus. Aber schon bald wird wieder der Müssiggang mein Leben bestimmen. In Puncto Beharrlichkeit, Willenskraft und Ausdauer ist mir mein innerer Schweinehund meilenweit voraus. Ich sollte mir ihn zum Vorbild nehmen … vielleicht nächstes Jahr.
PS: Die Zeilen entstanden vor dem Ersten Ersten unter dem Einfluss von Glühwein und Weihnachtsgebäck.
12. Oktober 2023 – 57: «Baujahr»
Es ist Mittwochabend, kurz nach zehn. Die Nacht hat mit ihrem Dunkel die Strassen und Häuser, die Wiesen und Auen des Gäus längst sanft in ihre Arme geschlossen. In der finsteren Turnhalle zeugt einzig der Geruch abgestandenen Schweisses, der sich zärtlich mit dem Odeur des Bodenpflegemittels paart, vom Training des örtlichen TV. Die Matten und Geräte ruhen, feinsäuberlich verstaut, im Materialraum.
Vor dem Probelokal des Kirchenchors sagen sich Alte und Baritone gute Nacht, und die Tenöre schäkern harmlos mit den Sopranen, so, wie sie es schon vor Jahren taten, als sie noch jung waren und stimmlich potent. Man verabschiedet sich und geht gähnend nach Hause. Das Vereinsleben ruht für eine Woche.
Einzig im Säli des Löwen brennt noch Licht. Fast alle Gemeindepräsidentinnen und -enten der Gäuer Gemeinden sitzen in fröhlicher Runde einträchtig zusammen. In ihren schweissnassen Händen Quartettkarten. Doch auf denen steht weder «Höchstgeschwindigkeit» noch «Beschleunigung», geschweige denn «Anzahl Zylinder», «Baujahr» oder «Hubraum». Vielmehr übertrumpfen sich die Spielenden mit «Bauzeit», «Rotphase», «Stau» und «geringste Anzahl Bauarbeiter pro Woche».
Fröhlich ordern sie noch das eine oder andere Fläschchen, denn alle können sie mitspielen beim munteren Baustellenquartett, und sich ganz oben auf dem Treppchen wähnen. Niemand aus der Region hat in diesem oder in den kommenden Jahren schlechte Karten. Am Feierabend schwingt dennoch einer obenaus, und zwar Thomas Marbet, als er mit der absoluten Trumpfkarte «Postplatz» den Sieg verdienterweise nach Olten holt.
Der Autor schaffte unlängst im Feierabendverkehr 300 Meter in rekordverdächtigen 30 Minuten.
10. August 2023 – 56: «Darwin meets Rock»
Es ist immer tragisch, wenn jemand abrupt und viel zu früh aus dem Leben gerissen wird. Gerade so schlimm finde ich es jedoch, was aus dem guten, alten Rock’n’Roll und seinen Protagonisten von einst geworden ist. Wollten diese früher jung und schön sterben, tauschen sie heute den ausschweifenden Lebenswandel gegen Askese, Verveine-Tee und Bachblütentröpfchen, um dereinst als reiche Greise Gevatter Tod ins Auge zu schauen.
Die einen zieht es auf den Golfplatz, wo sie nicht länger an ihrem Bad-Boy-Image, sondern an ihrem Handicap arbeiten. Die anderen fliehen in den Wald, wo ihre Umarmungen statt Fans oder Whiskeyflaschen wahlweise Buchen, Eichen, Föhren oder anderweitigem Gehölz gelten. Dabei lassen sie sich willig für die Titelseiten der Yellow Press ablichten, besonders dann, wenn sie gerade ihre gesammelten Lebensweisheiten zur Freude ihres Kontos, der Bankberater und der designierten Erben zwischen zwei Buchdeckel geklemmt haben.
Und erwischt der Sensenmann einen von ihnen dennoch unprogrammmässig früh, ist er weder vollgedröhnt noch auf der Flucht vor übereifrigen Gesetzeshütern. Nein, der moderne Rockrentner klopft an Petrus’ Pforte, weil er brav seinen Töff auf dem Pannenstreifen parkiert hat und gerade dabei ist, das Regengwändli zu montieren, um einem inkontinenten Wölkchen, das über ihm aufgezogen ist, Tribut zu zollen, als ein vorbeifahrender Truck seinen Feuerstuhl in ein letales Katapult verwandelt. Darwin trifft auf Rock.
Dagegen scheint die Volksmusikbranche richtig wild, denn dort gibt es noch hemmungslose Exzesse, Sex and Drugs and Heimatmelodie …
Am 5. August wäre Steve Lee 60 geworden … hätte es am 5. Oktober 2010 in Nevada nicht geregnet.
20. April 2023 – 55: «So long Easy Rider»
Sie waren die Easy Rider der Dorfstrassen, die coolen, rüpelhaften Töfflibuben, die sich von einem frisierten, stinkenden Zweitakt-Triebwerk über den ländlichen Asphalt katapultieren liessen. Rotzfrech, uniformiert mit angefleckter Jeans und abgewetzter Lederjacke, brauchten sie bloss die cool zwischen den Lippen sitzende Zigarette aufglimmen zu lassen, um das Blut der für uns anderen unerreichbaren Klassenschätzeli in Wallung zu versetzen. Ich mied sie ängstlich, die Schulhofrebellen mit dem Testosteronspiegel von Zuchtmunis, doch insgeheim beneidete ich sie um ihre Selbstsicherheit … und um die Klassenschätzeli.
Was sich unserer Tage über die Trottoirs anschleicht und arglose Passanten erschreckt, ist lautlos. Salzsäulenartig stehen fahle Figuren mit ausdruckslosen Mienen wie festgeschraubt auf ihren E-Scooter und geben Strom, wo früher Gas war. Für sie ist nicht länger der Weg das Ziel, sondern das Ziel, und dort angekommen, werden die fahrbaren Unterlagen ignorant liegengelassen. Rücksichtslosigkeit scheint die einzige Konstante im Wandel der Zeit. Beim Vergleich von früher zu jetzt trifft die gute, alte Spass- auf die dumpfe, neue Bespass-mich-Gesellschaft.
Ich fragte mich oft, was aus den Anarchisten von damals geworden sei, bis ich neulich einen von ihnen traf. Geschäftsmann sei er, berichtete er. Dem Auftreten nach ein erfolgreicher. Was er so mache, wollte ich wissen, und wo seine Wut auf das System geblieben sei. Er grinste süffisant und meinte, heute lasse er durch seine Kunden Angst und Schrecken verbreiten; er verkaufe E-Scooter.
Der Autor wünscht allen Gleitenden gute Fahrt und allen Erschreckten gute Nerven.
9. März 2023 – 54: «Der Retter»
Nils liebt die Menschen. Und er liebt die Natur. Nils liebt alles, bloss nicht den Staat. Um Menschen und Natur vor den Menschen zu schützen, lebt Nils von staatlichen Zuwendungen und opfert seine Zeit vollumfänglich dem Aktivismus. An Kundgebungen schreit er lauter als ein Auktionator auf der Gant. Nils ist stolz auf das Erreichte. Die Raucher hat man erfolgreich stigmatisiert und weitestgehend aus Innenräumen verbannt. Aktuell nimmt er die Autos ins Visier. Sie stünden, meint der Pazifist, unmittelbar vor dem Blattschuss.
An der Ernährungsfront sieht sich Nils einer Phalanx mächtiger Feinde gegenüber: Alkohol, Fett, Salz und Zucker. Sie gehörten samt und sonders verboten, weil sie süchtig machten und krank, sagt er. Der Fleischkonsum sowieso; jener unter Androhung drakonischer Strafen. Um ein Haar wäre Nils zum Klimakleber geworden, doch fürchtet sich der Hyperallergiker zu sehr vor einer Sekundenleim-Intoleranz und dem Fakt, dass sich stundenlanges Festgeklebtsein negativ auf sein Herz-Kreislauf-System auswirken könnte. Schliesslich ist Sitzen das neue Rauchen.
Das sei alles gut gemeint, sagte ich ihm kürzlich, doch nicht so effizient wie die Massnahmen des französischen Staates. Seit dieser nämlich gratis Kondome an unter 26-Jährige verteile, bewahre er die Anwender sowohl vor fiesen Geschlechtskrankheiten wie auch vor ungewollten Schwangerschaften. Und dies wiederum erspare potenziellen Menschen dereinstige Nils’sche Rettungsaktionen. Darüber hinaus bliebe ihnen das erspart, was sogar den konsequentesten Asketen irgendwann dahinraffe – das Leben.
Der Autor wünscht allen ein gesundes und genussvolles Leben. Auch, und gerade dem Nils.
19. Januar 2023 – 53: «Trautes Heim»
Wir sollen doch vorbeikommen, haben sie gesagt, sie möchten uns ihr schmuckes Daheim zeigen. Fast ein Jahr schoben wir den Pflichtbesuch vor uns her; heute statten wir ihn endlich ab. Schon aus der Ferne sticht das Heimetli unserer Gastgeber aus der Reihenhaussiedlung heraus. Es strahlt regelrecht und trägt majestätisch die Insignien kleinbürgerlichen Wohlstands zur Schau: hingebungsvoll gepflegter Vorgarten mit englischem Rasen, grosszügiger Wintergarten, der aktuell als Orangerie für tropische Pflanzen dient, blitzblankes Garagentor, hinter dem ein neues Elektroauto am Strom nuckelt, Photovoltaikanlage auf dem Dach.
«Alles zu unterhalten, macht sehr viel Arbeit», verrät der Besitzer stolz. «Am 9. Januar habe ich bereits zum ersten Mal den Rasen gemäht. Vor acht Uhr.» Da werden sich die Nachbarn gefreut haben, denken wir.
Die Hausbesichtigung (wir werden geheissen, die Schuhe auszuziehen) lässt keinen Winkel aus und führt vom Keller bis unters Dach. Alles ist akribisch geputzt und penibel aufgeräumt. Der Hund passt farblich zur Einrichtung. Mit ihm unternähmen sie täglich zwei ausgedehnte Spaziergänge, das sei man dem Tier schuldig.
«Woher nehmt ihr bloss all die Zeit?», fragen wir uns und ihn. «Man könnte meinen, ihr seid mit Mitte dreissig schon in Pension.» «Viel besser», erklärt er, «seit zwei Jahren arbeiten wir im Homeoffice. Da stimmt die Work-Life-Balance.» «Ach, da schockiert es euch sicher, dass euer Brötchengeber vor der Pleite steht», wenden wir ehrlich besorgt ein. Er winkt ab. «Bei denen wundert mich gar nichts, das Management hat den Laden einfach nicht im Griff!»
Statt den Rasen zu mähen hat der Autor diese Kolumne verfasst.
3. November 2022 – 52: «Das Gute»
Gabi gehört der Gattung jener Berufsoptimisten an, deren Kommentare zu Hiobsbotschaften stets mit dem gleichen kategorischen Imperativ beginnen: «Du musst das Gute darin sehen!»
Hinterbliebenen, die ihre Lieben «nach langer, schwerer, mit grosser Geduld ertragener Krankheit» zu Grabe tragen, befiehlt sie, das Gute darin zu sehen, Zeit zum Abschiednehmen gehabt zu haben. Wer Angehörige an plötzlichem Herztod verliert, wird ultimativ geheissen, das Gute darin zu sehen, dass den Toten Leiden und Siechtum erspart blieben.
Was mich an ihr irritiert, ist weniger die Gabe, selbst die grässlichsten Fratzen des Schicksals in ein sanftes Licht zu rücken, das ihnen vermeintlich harmlose Tierbabygesichter verleiht. Vielmehr stört mich der schönfärberische, inquisitorische Kreuzzug, den sie im Namen einer gnadenreichen Positivität führt.
Jüngst kreuzten sich unsere Wege. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Ihr Gesicht war fahl, schlaff, ohne maskenhaftes Lächeln. Was geschehen sei, wollte ich wissen. «Luna!», schluchzte sie. Ihr Hund. Zwischen Wimmerlauten vernahm ich ein «tot». «Du musst das Gute darin sehen», hörte ich mich mit salbender Stimme sagen. «Jetzt brauchst du nicht mehr bei jedem Wetter zwei Mal täglich rauszugehen.» Wolken des Hasses verfinsterten ihren Blick. Sie türmte schiere Verachtung zu einem Scheiterhaufen, auf dem sie mich augenblicklich verbrannte. In mir loderten diabolische Flammen selbstgerechter Überlegenheit auf. Beinahe verführten sie mich zu glauben, just dies niedere Gefühl sei Gabis wahrer Beweggrund für ihren militanten Optimismus.
Der Autor findet, schwarz darf auch mal schwarz bleiben und muss nicht permanent weissgeredet werden.
18. August 2022 – 51: «Streitkultur»
Ich kannte einst eine Fabrikantenwitwe, die beschloss, ihren Lebensabend im Tessin zu verbringen. Darauf bereitete sie sich intensiv mit Italienischkursen vor, denn sie wollte am Leben dort teilhaben, und fand, es sei der Höflichkeit geschuldet, sich auf seine Gastgeber einzustellen.
Diese Überzeugung hätten die beiden Pärchen, die sich in unserer Lieblings-Osteria hoch über Brissago an den Nebentisch setzten, niemals geteilt. Für sie war Züridütsch ihre Form von Esperanto. «Die verstehen uns schon!», proletete das Alphamännchen, bevor es so lautstark nach dem «Fröläin!» rief, dass uns das Ausbleiben eines Echos von ennet dem See geradezu verblüffte. Er solle keinen Streit vom Zaun brechen, flüsterte seine Gattin. Das liess der Angezischte nicht auf sich sitzen. «Streit gehört zum Leben. Ich habe eine hervorragende Streitkultur!», brüstete er sich. «Was man von dir nicht behaupten kann!» Sie wandte ein, er schreie sie immer an, worauf ihm der Kragen platzte: «Ich muss dich nur dann anschreien, wenn du mir nicht zuhörst!» Mit einem kleinlauten: «Ich bin halt eine Waage, wie sie im Buche steht», versuchte das Betamännchen erfolglos den Disput zu bereichern.
Die gesamte Zeit erhielten wir zu famoser Tessiner Küche gratis Realsatire vom Feinsten serviert. Als es ans Zahlen ging, bot sich die Bilderbuch-Waage an, die Rechnung zu übernehmen. Alphas Frau griff ins Handtäschchen und fragte die Fleisch gewordene Streitkultur, ob er sein Portemonnaie brauche. Kopfschüttelnd deutete er auf Beta und meinte: «Lass ihn doch! Ich will mich nicht streiten. Manchmal muss der Klügere einfach nachgeben.»
Übrigens: Die Osteria heisst «Borei» und ist aufs Wärmste zu empfehlen.
12. Mai 2022 – 50: «Das Gezwitscher»
«Guten Tag, der Herr.»
«Morgen.»
«Womit kann ich dienen?»
«Sind Sie der Besitzer dieser Voliere?»
«Der Vogelfänger bin ich, ja.»
«Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, Ihr Geschäft stehe zum Verkauf.»
«Da hat dies Vögelein den Schnabel ganz schön voll genommen. Doch wenn Sie Ornithologe sind, kann ich Ihnen ein paar Piepmätze abtreten.»
«Ich will nicht ein paar, ich will den ganzen Schwarm.»
«Die machen aber jede Menge Lärm.»
«Bei mir darf jeder so viel Lärm machen, wie er kann – und ich will.»
«Nein, nein, wir sind nicht zu verkaufen.»
«Aber käuflich.»
«Wo denken Sie hin? Nicht für alles Geld der Welt!»
«Wie klingen fünfunddreissig Milliarden für Sie?»
«Da pfeif ich drauf!»
«Sie kriegen wohl den Kropf nicht voll genug. Vierzig?»
«Nun, ein bisschen mehr darf’s schon sein. Sagen wir vierundvierzig, weil Sie es sind.»
«Gut, einverstanden. Sagen Sie, kann ich mit Bruttoinlandprodukten zahlen?»
«Mit wie bitte was?»
«Mit dem Wert sämtlicher Waren und Dienstleistungen, die eine Volkswirtschaft innerhalb ihrer Landesgrenzen in einem Jahr produziert. Ich könnte Jordanien anbieten. Oder zwei Mal Zypern? Oder lieber vier Mal Malawi? Was sagen Sie?»
«Nur Cash ist fesch!»
«Na gut, voilà.»
«Danke. Dafür kriegen Sie noch einen Schokoriegel obendrauf, gratis und franko.»
«Ich esse keine Schokolade, Schokolade macht dumm.»
«Aber es ist ein Mars …»
«Her damit!»
Der Autor hat Mühe mit all den vielen Nullen.
17. März 2022 – 49: «Die Rossi»
Gemeinsam mit den letzten Schlucken aus der zweiten Flasche Burgunder spende ich Peter Trost. Auch nach fast zwei Jahren ist er noch immer nicht über die Trennung von Petra hinweg. «Hab sie in die Wüste geschickt», lügt er sich, mich und die leeren Flaschen an. «Soll sie doch an einem anderen rumnörgeln und ihn zum Haushaltsklaven machen!» Noch bevor ich ihn daran erinnern kann, dass es Petra war, die seine Koffer gepackt und vor ihre Tür gestellt hatte, schreckt er auf. «So, Feierabend», verkündet er, «ich muss noch aufräumen und staubsaugen.» «Ich dachte, dafür hättest du irgendeine Zugehfrau», sage ich. «Nicht irgendeine», weist er mich zurecht, «die Rossi. Die ist die Beste. Die putzt nicht bei jedem.» «Wo liegt dann das Problem?» «Schau dir doch mal die Sauerei an!», blafft er mich an. «Was soll die Rossi denn von mir denken? Nein, nein, mein Freund, wenn die kommt, muss alles piekfein sein.» «Von Petra hast du dir auch nichts sagen lassen», halte ich dagegen. Er schüttelt den Kopf. «Du kennst die Rossi nicht! Die ist da knallhart. Womöglich erzählt sie noch rum, ich können meinen Haushalt nicht in Schuss halten. Also, gute Nacht!», komplementiert er mich hinaus.
Ein paar Wochen später treffe ich ihn wieder. Er ist bestens gelaunt und auf meine Frage, was die düsteren Wolken über seinem Gemüt vertrieben habe, frohlockt er, er arbeite jetzt Teilzeit. So könne er am Tag, bevor die Rossi komme, seine Wohnung auf Vordermann bringen und die Wäsche machen. Die Rossi schwärme schon in den höchsten Tönen von ihm. Vor allem beim Folgetermin, und den habe sie bei Petra …
Der Autor versichert, von einer wahren Begebenheit inspiriert worden zu sein.
6. Januar 2022 – 48: «Die Monarchie»
Traditionsgemäss klingelte die Grossmutter am 6. Januar nach dem Mittagessen bei Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Ihr Korb war gefüllt mit allerlei Geschenken, darunter ihrem legendären, selbstgebackenen Dreikönigskuchen. «Gross bist du geworden», sagte sie, ebenfalls traditionsgemäss, als sich alle um den Küchentisch versammelt hatten, zur Enkelin, die kurz von ihrem Smartphone aufblickte, die Augen verdrehte und sofort wieder in die Welt ihrer digitalen Freunde abtauchte. «Familienschlauch!», tippte sie ins Display.
Alsdann schickte sich die Grossmutter an, der Weihnachtsgeschichte zweiter Teil zu erzählen: «Drei weise Könige aus dem Morgenland waren Sterndeuter und folgten dem Stern, der sie zur Krippe zu Bethlehem führte, wo das Christkind lag. Sie brachten Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke mit und huldigten dem König der Könige.»
«Könige, echt jetzt, Grosi?», murrte die Enkelin, die doch gerade erst noch Windeln getragen hatte, schnippisch. «Du meinst autokratische Diktatoren, die ihr Volk unterjochen und ausbeuten, Monarchen, die ihre Alleinherrschaft über Generationen weitervererben, aber natürlich nur an ihre Söhne, weil Töchter in diesem patriarchischen System nichts wert sind. Und sie kommen mit wertvollen Geschenken. Wozu? Um diesen König zu korrumpieren?»
Die Augen der Grossmutter füllten sich mit Tränen. «Gross bist du geworden …», wiederholte sie wehmütig, brach ein Stück vom Dreikönigskuchen ab und biss beherzt zu. Was konnte ihr ein kleines Stück Plastik in Königsform jetzt noch anhaben, wo sie sich doch die Zähne längst an ihrer Enkelin ausgebissen hatte …
Der Autor wünscht e Guete beim Kuchen, allen Monarchen für einen Tag eine erfolgreiche Regentschaft und allen Lesern ein frohes neues Jahr.
4. November 2021 – 47: «Null 007»
Nach zwei Jahren Kinoabstinenz lockte er uns wieder einmal ins Lichtspielhaus: Er, der Geheimagent im Dienste ihrer Majestät, der Retter der Welt, der Mann mit der Lizenz zum Töten, der legendäre James Bond. In den nunmehr 60 Jahren, in denen die Abenteuer des chauvinistischen Machos auf Zelluloid gebannt werden, besiegte er stets in letzter Sekunde das Böse, blickte dem Tod mit einem flotten Spruch auf den Lippen verachtend ins Auge und ging kaum je allein zu Bett.
Und jetzt das: Ein Film, so farblos wie ein ausgewaschenes Band-Shirt aus den Achtzigern, so zäh wie eine als Schnitzel verkleidete Schuhsohle, so prickelnd wie ein Glas Wasser aus einer schlammigen Pfütze, so witzig wie eine mathematische Formel. Das Drehbuch, als hätte es Rosamunde Pilcher nach Motiven von Ian Fleming getippt, inszeniert von einem woken Zeitgeist.
163 nicht enden wollende Minuten lang musste ich mitansehen, wie der politisch inkorrekte Schurken- und Schürzenjäger von einst zu einem Etwas mutierte, das weder Relikt aus längst vergangener Zeit noch angesagter, softer, hipper Frauenversteher ist. Vor meinen Augen vollzog sich die Metamorphose des weltgewandten Geheimagenten zum provinziellen Trickdieb, der mir mit seinen effekthascherischen Taschenspielertricks drei Stunden meiner Lebenszeit klaute.
Dennoch, Bond, James Bond hat mir auch etwas Wertvolles geschenkt: Die Vorfreude auf einen Ausgeh-Abend, das gute Gefühl, wieder einmal im Kino zu sitzen, Bilder auf der ganz grossen Leinwand und ein Motiv, mich in dieser Feder köstlich über eine Nebensächlichkeit ärgern zu dürfen. Na dann, danke, 007!
Von Filmen und Wein versteht der Federschreiber nichts … bloss dass er manche mag und andere nicht.
19. August 2021 – 46: «Der Kardinalfehler»
Die mondlose Nacht hatte den Vatikan in eine schwarze Soutane gehüllt. Nur im Arbeitszimmer eines verzweifelten Kardinals brannte noch Licht. Sein Auftrag: das meistverkaufte Buch aller Zeiten in eine moderne, gendergerechte Sprache übertragen. Die Arbeit bereitete ihm Kopfzerbrechen und viele schlaflose Nächte wie diese, in der er über den zehn Geboten brütete.
«Du sollst Vater und Mutter ehren» schliesst Alleinerziehende und Gleichgeschlechtliche aus, sagte er sich, und bekreuzigte sich beim zweiten Gedanken hastig. Den Vater vor die Mutter zu stellen, dürfte als diskriminierend ausgelegt werden, und binäre Geschlechtsbegriffe wie «Vater» und «Mutter» hatten sowieso ausgedient. «Das Elter» ersetzte sie gendergerecht. Also schrieb er: «Du sollst das Elter und, falls vorhanden, das Elter ehren.» Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ein spielendes Kind von der Schaukel fällt, zu weinen beginnt, in die offenen Arme seiner Mutter rennt und schluchzend ruft: «Elter, Elter, mein Knie tut so weh!» Kopfschüttelnd zerknüllte er den Zettel.
Treue dürfte ihm leichter fallen als Elternschaft, dachte er. «Du sollst nicht ehebrechen.» Er grübelte. Wenn dem Gebot tatsächlich Folge geleistet würde, wäre eine maximal treue Welt mit möglichst vielen Ehepaaren zu erreichen. Folglich dürfte niemandem die Ehe verwehrt werden. Erneut bekreuzigte er sich. Ihm war, als wäre ihm eine Frucht vom Baum der Erkenntnis geschenkt worden, die ihn einsehen liess, dass der Gedanke, die Bibel zu gendern, ein Kardinalfehler war und die reine Form den wahren Inhalt niemals würde ersetzen können.
Der Autor hofft, dass in der Schweiz am 26.9. viel mehr Menschen das Recht auf eheliche Treue zugestanden wird …
12. Mai 2021 – 45: «Wer zuletzt (nicht) lacht
Einst war Luigi der begnadetste Witzeerzähler des Universums. Seine Pointen trafen wie die Geschosse eines Scharfschützen. Sein Timing glich jenem eines Meisterdirigenten. Sein Repertoire war breiter als die Gestade des Meeres. Statt mit «Hallo» begrüsste er einen mit: «Kennst du den schon?» Seit aber politische Korrektheit zur moralischen Währung unserer Gesellschaft erkoren wurde, ist Luigi nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Gebrochener, ein eingefallenes, gebücktes Männlein.
Brennt ihm die Geschichte vom Rabbi und dem Pfarrer auf der Zunge, fürchtet er sich, ein Antisemit oder Nazi geschimpft zu werden. Beim Scherz vom afrikanischen Reisebus an der österreichischen Grenze graut ihm vor Rassismusvorwürfen. Die Anekdote vom Mann, der zum Arzt kommt, vermeidet er tunlichst, weil er Menschen nicht mehr in ein veraltetes, binäres Geschlechterbild zwängen will. Und sämtliche Blondinenwitze ruhen seit #metoo sanft auf dem Friedhof seiner Erinnerungen.
Verzweifelt suchte er sich psychologische Hilfe. In der Abgeschiedenheit des Sprechzimmers gibt er nun wöchentlich jene Kalauer zum Besten, die ihn in seiner Blütezeit zur gefeierten Attraktion jeder Party und später zur Persona non grata machten. Der Therapeut nickt jeweils verständnisvoll und macht sich Notizen. Gestern, als er beim Gehen die Tür hinter sich ins Schloss zog, glaubte Luigi zu vernehmen, wie Freuds Jünger in schallendes Gelächter ausbrach. Ein leiser Anflug von Freude skizzierte ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht. Zu Hause küsste er zärtlich seine Frau und meinte, die Therapie tue ihm richtig wohl.
Der Autor überlegt sich, Luigi künftig zur Therapiestunde zu begleiten. Das wäre zwar politisch inkorrekt, aber wenigstens auf Krankenschein.
18. März 2021 – 44: «Infaulenzer»
Angestrengt starrte der Berufsberater auf den Bewertungsbogen. Die unleserliche Schrift verleitete ihn beinahe zu einem humorigen «vielleicht Arzt». Ein Blick auf die Zeugnisnoten der unablässig an ihrem Handy manipulierenden Klientin liess jedoch jede Hoffnung, die Bemerkung könne verstanden werden, ersterben. Sein Gegenüber formte ihre Lippen, die so aufgeblasen waren, dass sie der Titanic genügend Auftrieb verliehen hätten, um sie am Sinken zu hindern, zu einem Kussmund, hielt die groteske Mimik in einem Selfie fest und veröffentlichte dieses alsdann auf einer Internet-Plattform. Digitale Herzchen und der Klang feiner Glöckchen modellierten ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht, dessen Vorhandensein unter der massiven Schminkschicht, die jedem wärmedämmenden Aussenputz alle Ehre machte, nur zu erahnen war.
«Wie stellen Sie sich denn Ihr Leben vor?», fragte der Fachmann mit einer zu neunzig Prozent mit Resignation gesättigten Stimme. «Ich will Fame und Fans und Geld und Luxus und Partys ohne Ende!» Man konnte der jungen Frau nicht vorhalten, sie wisse nicht, was sie wolle. Nach einer kurzen Weile blickte der Mann mit traurigen Augen über seine Nickelbrille und rekapitulierte: «Sie sind arbeitsscheu, lernfaul, talentlos, narzisstisch, oberflächlich, beratungsresistent, Sie strotzen vor Selbstüberschätzung und glauben, es müsse Ihnen alles zufallen. Da gibt es nur eines: werden Sie Infaulenzer.» «Influencer heisst das!», erschallte harsch das Echo. Er schüttelte den Kopf. «Da bin ich nicht so sicher …»
Der Autor schafft es (noch) nicht, jeder modernen Berufsgattung mit dem gleichen Respekt zu begegnen.
4. Februar 2021 – 43: «Akzeptieren»
An einem schönen Ferientage,
ich war dabei, mich faul zu recken,
erschallte die Sonnieranlage
und liess mich aus dem Bett aufschrecken.
Ein junger Mann stand vor der Tür,
in T-Shirt, Jeans und Adiletten.
Blond gelockt machte er mir
Eindruck einen ganz adretten.
Ich kannte ihn irgendwoher
und fragte, was er hier jetzt mache:
«Sprich, Freund, was ist dein Begehr?»
Alsdann kam er direkt zur Sache.
«Den Erstgebornen, wenn’s beliebt.
Ich nehm ihn auf der Stelle mit.
Falls es noch einen zweiten gibt,
bring ihn mir auch, dann sind wir quitt.»
Wütend brach’s aus mir heraus:
«In rumpelstilzchenscher Manier
spricht keiner hier in diesem Haus.
Solch Unart, die verbitt ich mir!
Mein Herz glich tausend Schlangengruben,
könnt jeder, der dahergelaufen,
verfügen über meine Buben,
versuchen, sie mir abzukaufen.»
«Sie wurden an mich abgetreten.
Alles ist protokolliert!
In AGBs wird drum gebeten.
Du hast mit Mausklick akzeptiert!
Ja glaubst du denn, es koste nicht,
meine Apps bequem zu nutzen?
Du stehst zutiefst in meiner Pflicht!
Da brauchst du gar nicht so zu stutzen.»
Im Schlepptau mit den beiden Söhnen
trollt er sich. Sie folgen brav.
Dann weckt zum Glück mein lautes Stöhnen
mich endlich aus dem tiefen Schlaf.
Herrn Zuckerbergs Spontanbesuch
war ein Albtraum nur gewesen.
Doch trotzdem werde, statt ein Buch,
ich öfter Kleingedrucktes lesen.
Der Autor kann sich auf neue AGBs oft keinen Reim machen, klickt aber, in Ermangelung männlicher Nachkommen, dennoch stets willfährig auf «akzeptieren».
17. Dezember 2020 – 42: Mängelrüge
Sehr geehrter Kundendienst
Vor 352 Tagen sah ich mich in Ermangelung echter Alternativen dazu genötigt, das Jahr 2020 von einem Monopolisten zu erwerben. Schon kurz nach Inbetriebnahme der ersten Wochen musste ich grobe Mängel feststellen. Deshalb beschwere ich mich vor Ablauf der Garantiezeit in aller Form über dieses schadhafte Produkt. Die vergangenen 51 Wochen weisen in weiten Teilen eindeutige Konstruktionsfehler auf.
Mit meiner Unzufriedenheit bin ich längst nicht allein. Weltweit wurde dieselbe überteuerte, qualitativ minderwertige Ware ausgeliefert. Schade – von einem Anbieter, der sich mit über 2000 Jahren Erfahrung brüstet, dürfte man mehr erwarten. Eigentlich ist diese Schlamperei ein Fall für den Kassensturz.
2020 führte bei vielen Menschen zu intellektueller Dysfunktion oder Vereinsamung. So öffnete meine Nachbarin jüngst sogar den Zeugen Jehovas die Tür und bat sie herein, bloss damit sie sich wieder einmal mit jemandem unterhalten konnte. Und ihr Gatte belegt aktuell einen Englisch-Fernkurs, um künftig in der Lage zu sein, mit lästigen Telefonverkäufern Konversation auf einfachem Niveau zu betreiben.
Mein Fazit liegt auf der Hand: 2020 ist eindeutig ein Montagsjahr. Mit Berufung auf Artikel 210, Absatz 1, des Obligationenrechts fordere ich Sie zur Rücknahme des unbrauchbaren Ramsches per 31. Dezember auf und erwarte die kostenlose Zustellung eines fabrikneuen, fehlerfreien Jahres per 1. Januar 2021.
Danke für Ihre Kenntnisnahme und beste Grüsse.
Der Autor wünscht allen Leserinnen und Lesern schon jetzt ein tadelloses neues Jahr.
8. Oktober 2020 – 41: Der Exen-Experte
In meiner Jugend war die Expertenwelt noch in Ordnung: Bruno Stanek holte uns die Sterne vom Himmel und Sepp Moser die Flieger. 16-Millimeter-Filmer Hans A. Traber war der Echsen- und Playboy Gunter Sachs der Exen-Experte. Für alles andere gab es Medienschaffende mit breitem Allgemein- und vertieftem Fachwissen.
Diese mediale Klarheit wurde fundamental getrübt. Seit vielerorts Qualitätsjournalismus nimmermehr von Qualitätsjournalisten mit Weitblick, sondern von Volontären mit Fokus auf Klickzahlen erbracht wird, stehen, in Ermangelung eigener Meinungen, plötzlich Experten hoch im Kurs. Zuweilen kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass, nebst ausgewiesenen Köpfen, auch ziemlich skurrile in die Medien gezerrt werden. Den Taschendieb macht man da schnell einmal zum Experten für Besitz-, den Raser zum Experten für Verkehrsrecht, den Einbrecher zum Sicherheitsexperten, den Quartieralkoholiker zum Experten für Kulinarik. Der Baggerfahrer taugt allemal als Experte für Ausgrabungen und die Hausfrau avanciert zur Expertin für Familienmanagement.
Tja, und da die Gladiatoren der medialen Neuzeit nun schon mal bereitstehen, lässt man sie zum Ergötzen von uns Medienkonsumierenden auch gerne gegeneinander antreten. Die Plattformen liefern die passende Arena, wir das blutrünstige Publikum. Plötzlich ist es wie im alten Rom: Brot und Spiele. Und der Kaiser, der seinen Daumen nach oben oder nach unten richtet, wird flugs ersetzt. Durch uns. Denn zum Glück gibt es Social Media. Cool! I like!
PS : Ich setze vertrauensvoll auf die Expertinnen für Familienmanagement. Ihr seid die Besten!
23. Juli 2020 – 40: Danke!
Während rings um uns die «neue Normalität» beschworen wird, gibt es Mitmenschen, die die Grenzen ihrer Möglichkeiten ausloten, um uns bei Wochenendeinkäufen das Gefühl von 2019 zu vermitteln. Vor diesen selbstlosen Helden der Frei- und Samstage ziehe ich heute meinen Hut.
Danke, du rüstiges Pärchen im beige-grauen Partnerlook, dass du am Ende des Fahrstegs wie Treibgut am Strand angeschwemmt stehenbleibst, damit unausweichlich eine Auffahrkollision von Einkaufswagen provozierst und uns affektiert anblaffst, wir sollen gefälligst nicht so drängeln.
Danke, du tölpelhafter Zweimeterhüne, der du dich breitschultrig unter Einsatz deiner Körpermasse an der Gemüsewaage vordrängst, weil du vermutlich nicht in der Lage bist, dir die Nummer der Bananen länger als einige Millisekunden zu merken. (Kleiner Tipp: Es ist immer die Eins!)
Danke, ihr naturbelassenen Wochenendväter, die ihr die schreiende Frucht eurer Lenden in Plastikautos quetscht und damit Gänge verkeilt, während ihr euch mit dem leicht konsternierten weiblichen Fachpersonal von Dutt zu Dutt über laktosefreie Erzeugnisse unterhaltet.
Und danke, du lieber Bettler mit dem gekünstelt unterwürfigen Blick und der Handorgel, die einen noch schäbigeren Eindruck macht als du, dass du noch immer mit chirurgischer Präzision konsequent an jedem einzelnen Ton vorbeischrammst und das arme, hilflose «La Paloma» weiterhin mit der bestialischen Gnadenlosigkeit eines herzlosen Folterknechts malträtierst.
Danke euch allen! Wie habe ich es vermisst, mich über euch ärgern zu können …
28. Mai 2020 – 39: Masken auf!
Während sich die Lage zu entspannen beginnt und für Partygänger nicht schnell genug wieder normalisieren kann, plädiere ich an dieser Stelle vehement für eine Maskenpflicht. Dabei spielt die Hygiene eine untergeordnete Rolle. Vielmehr sehe ich triftigere Gründe:
#5: Masken, ob legal erworben, fantasievoll gebastelt oder wo zur Verfügung gestellt stapelweise entwendet, stellen Gesichtserkennungsprogramme vor ungeahnte Herausforderungen. Ist es nicht reizvoll, Big Brother ein Schnippchen zu schlagen?
#4: Wenn die holde Angebetete fürs Ausgeh-Make-up statt des gesamten Gesichts nur noch die Augenpartie einer michelangeloschen Freskomalerei zu unterziehen hat, startet für den wackeren Junker der gemeinsame Abend mit geringerer Verspätung.
#3: Mundgeruch wird vor einer kollektiven olfaktorischen Beeinträchtigung zum Verursacherproblem. Dies führt zu einer Ankurbelung des Verkaufs von Mundwässerchen, welcher die Einbrüche bei Lippenstift und Wangenrouge (#4) wettzumachen vermag.
#2: Masken sind nicht nur modisch, sondern auch multifunktional. Sie lassen sich abwechselnd als Hygieneschutz, Bartstütze oder Kinnarretierer verwenden. Die Harmonie von Foulard, bzw. Krawatte/Einstecktuch, und Hygienemaske wird zum schicken Muss.
#1: Selbst ein neutrales, blaues Zelluloseflies wirkt im Allgemeinen bei Zufallsbegegnungen auf das Gegenüber wesentlich attraktiver als der abgelöscht ausdruckslose Gesichtsausdruck eines Grossteils unserer Zeitgenossen.
Als bekennender Schönredner weiss der Autor auch dieser Situation etwas Positives abzuringen.
16. April 2020 – 38: Und immer wieder die Zeit
Die Situation entbehrt nicht einer gewissen loriesken Note. Der Nachmittag ist angebrochen. Ich fläze mich aufs Sofa, meine Gedanken beim Abendessen und dem Wein, den ich der Grillade als Begleitung aus dem Keller holen werde. Ich tue das, was ich am besten kann: nichts. Sie allerdings ist umtriebig, wuselt in der Wohnung umher, huscht in den Garten, putzt, dekoriert, pflanzt. Sie nennt es Beschäftigung, ich Aktionismus.
«Du könntest mal wieder ein Buch lesen. Jetzt hast du ja Zeit», schlägt sie vor. «Geht nicht. Hab die Brille im Geschäft vergessen.» «Oder Fotos sortieren und ein Album bestellen. Jetzt, wo du Zeit hast.» «Dazu ist das Wetter viel zu schön.» «Dann reparier doch den Gartenzaun.» «Dafür mangelt es an Material und der Baumarkt ist zu.» «Warum mähst du nicht den Rasen?» «Weil du gesagt hast, die Wiesenblumen gefielen dir so gut. Ich warte, bis sie verblüht sind.» «Es gibt so vieles, was du stets auf die lange Bank geschoben hast und machen wolltest, wenn du einmal Zeit hättest. Jetzt hast du sie. Also, mach doch was!»
In meinem Geist verschmelzen die Geräusche ihrer Geschäftigkeit und guten Ratschläge zu einem Meeresrauschen, das mich mit seinen sanften Wogen in den Schlaf wiegt. Ich erwache um fünf Uhr. Zu spät, um etwas Neues anzufangen! Wir grillieren, essen, trinken, plaudern. «Morgen könntest du die Hecke schneiden. Du hast ja alle Zeit der Welt», versucht sie mich zu motivieren. Ich nippe am Glas und freue mich insgeheim auf jene Zeit, in der ich wieder keine Zeit mehr haben werde.
Geben Sie auf sich Acht und bleiben Sie gesund!
13. Februar 2020 – 37: 2019-nCoV
«Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur»*, las ich dieser Tage. Dabei musste ich unweigerlich an Herrn Grantler denken. Wie kaum ein Zweiter vermag er den Aggregatzustand seiner Angst blitzschnell in Ablehnung umzuwandeln.
Ein Beispiel dafür ist «der Deutsche». Dem Teutonen gehe es einzig um Landgewinn, behauptet er. Beste Beweise dafür lieferten der Krieg und die bereits morgens um sechs mit Badetüchern reservierten Strandliegen auf Mallorca. Er pflegt auch eine Aversion gegen «den Russen», weil kommunistisch und viel zu dicke, schwermütige Bücher in fremden Zeichen schreibend. Gastarbeiter- und flüchtlingswellenweise destilliert er die Furcht vor dem Unbekannten in Abneigung. Diffusen Feindbildern verleiht er mit dem Begriff «der Terrorist» eine klare Kontur.
Aktuell schiebt Grantler Panik vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Ein Schuldiger dafür ist schnell gefunden: «der Chinese». War dieser bis vor kurzem noch fleissig, brav und lächelnd, ist er quasi über Nacht zur gelben Gefahr mutiert. Das fände ich lächerlich, sage ich zu Herrn Wu, als wir in der Stadt in seinem Chinarestaurant sitzen. Doch dieser winkt ab. Das Lokal bleibe derzeit fast leer. Obwohl er seine Lebensmittel regional einkaufe und zum letzten Mal vor sieben Jahren nach China gereist sei, machten die meisten einen weiten Bogen um den schwülstigen, von zwei Löwen gesäumten Eingang.
Nachdem wir die 23, die 52 und die 87 genüsslich verzehrt haben, offeriert uns Herr Wu einen Pflaumenwein, mit dem wir im Gedenken an die jährlich rund fünfhunderttausend Opfer der «gewöhnlichen» Grippe still anstossen.
* Das Zitat stammt von Volker Pispers. Zeit zum Schmökern fand der Autor während er seine Influenza auskurierte.
19. Dezember 2019 – 36: Christa
Während Frau Flüeli liebevoll die selbstgenähten Kostüme bügelt, sitzt ihr Mann konzentriert am Eichentisch. Mit klobigen Fingern beigt er Zweifränkler und Fünfliber zu Türmchen. Banknoten streicht er feinsäuberlich glatt und legt Gleiche auf Gleiche. Als er das Resultat seiner Zählung in ein abgegriffenes Kassabüchlein einträgt, runzelt er die Stirn. «Weniger als letztes Jahr», seufzt er. «Samichlausen lohnt sich nicht mehr.» Sie blickt wehmütig auf, leckt kurz ihren linken Zeigefinger an und tippt damit auf die Bügeleisensohle. Ein leises Zischen bricht die Stille.
«Die Welt gerät aus den Fugen», wimmert Flüeli. «Ein männlicher Samichlaus sei sexistisch, sagen sie. Und du als schwarz angemalter Schmutzli seist rassistisch, sagen sie. Aber der Heilige Nikolaus war doch ein Mann, sagt die Legende.» Frau Flüeli atmet schwer. «Was kommt wohl als nächstes?», fragt ihr Gatte verzweifelt. «Vielleicht ist es auch sexistisch, wenn das Christkind ein Bube ist. Muss dann Maria ein Mädchen gebären und es Christa nennen? Wegen der Quote!?»
Frau Flüelis Blick klart auf, als sie den Faden weiterspinnt: «Aber spätestens, wenn sie am Karfreitag eine junge, einzig mit Lendenschurz bekleidete Frau auspeitschen und ans Kreuz nageln, hört der Spuk auf. Das wäre dann wohl selbst für die zu viel der Gleichstellung.» Erleichtert geht Herr Flüeli zur Bank und zahlt das Geld ein, derweil Frau Flüeli die Kostüme im Mottenschrank versorgt und sich anschickt, den Weihnachtsbaum zu schmücken.
Der Autor wünscht allen Leserinnen, Lesern und Lesenden frohe Festtage.
10. Oktober 2019 – 35: Der Gutmensch
Wie wild wetterte Wahlhelfer Willy wütend wüste Worte durch die Wirtschaft. Was wohl aus der Welt würde, wenn wir willfährigen Weicheier wider besseren Wissens weinerliche Warmduscher wählen würden, wollte er wissen. Während seiner Tirade schwoll der Pegel meines Schimpfwortschatzes synchron mit Willys Blutdruck an. Kurz bevor sein hochroter Kopf explodierte, feuerte er unter Mobilisierung aller verbleibenden Kräfte ein letztes, vernichtendes Geschoss ab: «Diese ... Gutmenschen!»
Der Rückstoss liess Willys geschwächten Körper rückwärts in die dekorative Bücherwand torkeln. Das Regal erzitterte unter der Wucht des Aufpralls. Ein kleines, in Leinen gebundenes Buch mit vergilbten Seiten löste sich aus der Reihe und fiel ihm vor die Füsse. «Goethes Gedichte in zeitlicher Folge» blieb, auf Seite 270 aufgeschlagen, vor ihm liegen. Ich hob es auf und las: «Das Göttliche. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.»
Es schien, als frage uns der Dichterfürst kopfschüttelnd, was aus unserer Gesellschaft geworden sei, wenn die hehren Ideale von einst heute als üble Beleidigungen dienten. Willy winkte ab. Goethe habe hier gar nichts zu befinden. Der sei nämlich nicht nur tot, sondern auch Deutscher, und die könnten ihm ohnehin gestohlen bleiben.
Sein Handy klingelte. Aus dem Lautsprecher drang der resolute, preussische Ton seiner Hilde, die ihn ultimativ aufforderte, den Nachhauseweg anzutreten, was Willy mit dem Gehorsam eines wackeren Soldaten umgehend tat.
Der Autor machte daraufhin von seinem Privileg Gebrauch und ging wählen.
25. Juli 2019 – 34: Memme im Mond
Berichte über die erste Mondlandung vor 50 Jahren fördern verblasst geglaubte Bilder aus den Tiefen meiner Kindheitserinnerungen an die Oberfläche und spülen sie an die Gestade meines Bewusstseins. Sie waren die Helden meiner Jugend, die waghalsigen Mannen, die sich mit der Wucht von 84 Millionen Pferdestärken ins All katapultieren liessen, um auf dem Erdtrabanten ihre Fussstapfen zu hinterlassen. Und in genau jene wollte ich dereinst treten. Dafür trainierte ich, indem ich kurzerhand eine Obstharasse zur Raumkapsel erklärte und pathetische Sätze murmelte, wenn meine Stiefel des Winters Abdrücke in den jungfräulichen Schnee stanzten.
Doch schnell wurde der lodernde Wunsch von den Fakten der Realität erstickt: Ich war kurzsichtig, unsportlich und ein Feigling mit Flugangst. Nicht einmal 84 Millionen PS hätten mich auf eine Achterbahn gebracht; mir wurde schon auf dem Kinderkarussell schlecht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bis vor kurzem wurde ich noch eine Memme geschimpft, wenn ich erzählte, unser Urlaubsradius sei eingeschränkt, weil ich nicht flöge. Das hat sich abrupt geändert. Plötzlich nennt man mich deswegen umweltbewusst und gibt mir das gute Gefühl, durch meine Flugabstinenz den Planeten zu retten. Danke, Greta!
Insgeheim ist aber die Sehnsucht nach dem All geblieben. Die Vorstellung jedoch, welche Kosten es zur Folge hätte, wenn ich durch eine CO2-Kompensation ein ökologisches Feigenblatt für meine Mondfahrt erwerben möchte, lässt mich stets rasant auf dem Boden der Realität aufschlagen.
Der Autor fragt sich, ob Astro-, Kosmo- und Taikonauten geregelte All-Tage haben …
29. Mai 2019 – 33: Stummer Protest
«14. Juni» steht auf dem Ferienzettel, den Frau Brändli en passant ihrem Vorgesetzten hinstreckt. Dieser wirft fahrig einen Blick in seine Agenda, legt die Stirn in Falten und schüttelt den Kopf: «Da hat der Betschard schon frei. Verschieben Sie’s!» «Es wäre mir aber wichtig», insistiert die Angestellte etwas verschämt. «Ich möchte …», sie ringt nach Luft und Mut, «… am Frauenstreiktag teilnehmen.»
Dem Chef schwappt ein kurzer Lacher aus dem Mund. «Betschards Frau auch, diese Emanze! Und die Tante von ihrer Kita ebenfalls. Drum muss der arme Kerl auf den Jungen aufpassen. Bleibt mal wieder alles an ihm hängen.» «Aber es geht um Gleichstellung und Gerechtigkeit. Um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das ist hier ja noch nicht der Fall. Obwohl ich besser qualifiziert bin als der Betschard, verdiene ich weniger.»
Jetzt platzt dem Vorgesetzten die Hutschnur: «Papperlapapp! Muss ich Ihnen wirklich die Welt erklären? Ihr Mann bringt doch das Geld nach Hause. Sie sind bloss Zweitverdienerin. Während Arbeit für Sie ein Zeitvertreib ist, muss der Betschard eine Familie ernähren. Soll ich ihn etwa verhungern lassen?»
Kleinlaut zerknüllt Frau Brändli den Ferienzettel und macht sich verdriesslichen Gesichts zurück an ihre Arbeit. Langsam hellt ihre Miene wieder auf, als sie sich vorstellt, dass sie durch ihren «stummen Protest» nicht nur den Betrieb ihrer Abteilung aufrecht erhält, sondern auch gleich zwei Geschlechtsgenossinnen die Gelegenheit gibt, für ihre Rechte auf die Strasse zu gehen: Betschards Emanze und der Kita-Tante.
Der Autor wünscht der Gesellschaft, dass diese fiktive Geschichte bald keinen Funken Wahrheit mehr hat.
18. April 2019 – 32: Der Rabattkönig
Was braven Kirchgängern der Sonntag, ist ihm der Dienstagabend. Wenn das Konsumentenschutz-Magazin über die Mattscheibe flimmert, hängt er andächtig an des Moderators Lippen. Dann ist dieser für ihn der Papst, seine Worte verkünden die Frohbotschaft und Produktetests zelebrieren das Hochamt. Und wenn der Fernsehmann in grossinquisitorischer Weise einen Wirtschaftsvertreter ins Kreuzverhör nimmt, jubelt sein Herz wie der Mob vor dem brennenden Scheiterhaufen.
In seinen Augen bin ich der dümmste aller Konsumenten, weil ich das bezahle, was auf dem Preisschild steht. Er aber kennt alle Tricks und Kniffe, er ist schlauer Sparfuchs und gewiefter Schnäppchenjäger. Die Schweiz ist für ihn eine Hochpreisinsel, er schlauer als jeder Robinson. Anschaffungen kommentiert er mit: «Wie viel hast du bezahlt?», um auf jede Antwort abschätzig zu schnöden: «Viel zu viel! Ich hätte nicht einmal die Hälfte dafür berappt».
Autos veräussert er nach Jahren mit Gewinn. Vermeintliches Sperrgut entsorgt er nicht über die Müllabfuhr, sondern verkauft es gewinnbringend im Internet. Er erwirbt nicht, um zu besitzen, er tut es, um zu sparen. Er kauft im Netz und ennet der Grenze, wo’s billig ist; er ist ja nicht so blöd wie ich.
Unlängst traf ich ihn – zermürbt, richtig niedergeschlagen. Seine Firma wurde von einem internationalen Konglomerat übernommen, die Arbeitsplätze weitgehend ins Ausland verlagert. Seiner ebenfalls. Dorthin, wo Arbeitskraft billig ist. Und zum ersten Mal monierte er «das billige Ausland».
Der Autor arbeitet, schreibt und kauft meist hierzulande.
14. Februar 2019 – 31: Klasse Klima
Endlich, dachte ich, als ich die Bilder engagierter Schülerinnen und Schüler sah, die jeweils freitags den Unterricht schwänzen, um für ein besseres Klima zu demonstrieren, endlich engagieren sich junge Leute wieder politisch und tun laut ihre Meinung kund. Auf die Null-Bock-Generation und die Generation Ego folgt eine Altersgruppe, die sich einmischt und kümmert. Und das ist gut so. Das freut mich. Denn schliesslich wird die Jugend von heute dereinst meine AHV zu finanzieren haben, und dazu wird eine gehörige Portion Selbstlosigkeit vonnöten sein.
Zwar erschloss sich mir die Kausalität zwischen leeren Klassenzimmern und dem Stopp oder gar der Umkehr des Klimawandels lange Zeit nicht. Aber das ist zweitrangig. Genauso zweitrangig wie die Frage, wann der versäumte Schulstoff nachgeholt wird. Wissen ist heute bekanntlich jederzeit und überall abrufbar, ergo stellt es in unseren Köpfen nur unnötigen Ballast dar, der verstaubt und sinnlos viel Platz vereinnahmt.
Kürzlich ist mir jedoch der Groschen gefallen: Als ich freitags völlig staufrei an den beiden Schulhäusern auf meinem Arbeitsweg vorbeifahren konnte, gelangte ich zur Erkenntnis, dass die durch Streiks verlängerten Wochenenden sehr wohl einen direkten, positiven Einfluss aufs Klima haben. Deshalb nämlich, weil Tausende von Eltern ihre Sprösslinge einen Tag weniger mit ihren schweren, durstigen Geländewagen direkt vor die Schulhauspforten chauffieren müssen und dadurch bestimmt Hunderte Tonnen von CO2 weniger in die Umwelt gelangen.
Der Autor grübelt dennoch darüber nach, weshalb nicht in der Freizeit demonstriert wird …
20. Dezember 2018 – 30: Nichts!
Noch während wir uns (mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken) feierlich geloben, dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke zu kaufen, zetteln Herz und Bauch eine Palastrevolte gegen den Kopf an. Weihnachten ohne Geschenke? Unvorstellbar! Doch vorerst halte ich Wort, und «nichts» bleibt tatsächlich nichts.
Das Damoklesschwert des heiligen Abends über dem Kopf, fahre ich in meiner Verzweiflung nach Zürich und stelle das Auto dort ab, wo die Parkgebühr mein Geschenkbudget um ein Mehrfaches übersteigt. Auf der Suche nach «nichts» betrete ich Läden, deren Namen laut zu denken mir wahrscheinlich eine Urheberrechtsklage eintragen würde, und kaufe blind ein.
Vollgepackt mache ich auf dem Weg zum Parkhaus am Weihnachtsmarkt Station und ertränke mein schlechtes Gewissen in Glühwein. Die klebrigen Depotmünzen von der Tasse werfe ich spendabel in den Sammeltopf der abstinenten Heilsarmee und murmle, sie sollen zumindest zu Weihnachten den Wein achten.
Im Parkhaus treffe ich einen anderen vollbeladenen Mann. In Ermangelung einer freien Hand deute ich mit dem Kinn auf seine sperrige Bagage. «Nichts?», frage ich, die Stirn runzelnd. «Nichts», nickt er mit einem leicht gequälten Lächeln. Mit dem Ellenbogen wähle ich das dritte Untergeschoss. Vor der Glastür bewegen sich die Wände nach oben.
Der Weihnachtsbaum funkelt mit den Augen meiner Lieben um die Wette. «Nichts» gefällt, doch nach einem Blick aufs Konto schwören wir uns feierlich, den Preis für «nichts» im nächsten Jahr tiefer anzusetzen.
Der Autor wünscht allen frohe Fresstage und lauter «nichts» unterm Baum.
11. Oktober 2018 – 29: Ohne
Das Pärchen am Tisch nahe des Eingangs erweckt den Eindruck, als hätte es sich eben erst im Internet und nicht für länger als ein Wochenende kennengelernt. Gespräch kann man das, was sich zwischen den Beiden zu entwickeln beginnt, nicht nennen. Vielmehr geht man offenbar einen im Kopf gespeicherten Fragenkatalog durch und arbeitet diesen Punkt für Punkt ab. Parallel scheinen via WhatsApp Einflüsterer zugeschaltet. Cyrano 2.0, denke ich.
Dann die Bestellung. Sie verlangt ein Mineralwasser «... ohne Kohlensäure!», er eine Cola «... ohne Zucker!». Zur Vorspeise wählt sie den Feldsalat «... ohne Ei!», er den Caprese «... ohne Basilikum!». Auch beim Hauptgang hält die Karte nicht bereit, was das Herz begehrt. Pizza Margherita darf’s für sie sein, «... ohne Käse!», ihn gelüstet (auch auf dem Teller) nach Fleischlichem: das Saltimbocca «... ohne Nudeln!». Zum Dessert lässt sie sich die kleine Meringue «... ohne Schlagrahm!» bringen, er den Coupe Dänemark «... ohne Schokolade!».
Gerade als ich mich frage, wann wir damit angefangen haben, unserer dekadenten Genuss-, Verschwendungs- und Wegwerfsucht mit dem Weglassen einer Zutat den schäbigen Mantel eines vermeintlichen Verzichts überzuziehen, dringt eine letzte Order an die Küche zu mir durch: ein Kaffee «... ohne Crème!» und ein Espresso «... ohne Koffein!». Ich zahle ... nicht ohne ein Trinkgeld zu geben. Auf dem Weg zum Ausgang drossle ich meine Schrittkadenz und wünsche den beiden bigotten Asketen noch einen schönen One-Night-Stand «... ohne Sex!».
Nach dem Vorkommnis suchte der Autor die Bar seines Vertrauens auf und gönnte sich einen grossen Gin Tonic ... ohne Tonic!
19. Juli 2018 – 28: Auto-Erotik
Bei der Autowaschanlage schloss ich jüngst Bekanntschaft mit dem Vertreter einer besonderen Spezies: Ein junger Mann, mit Schultern so breit wie die Spurweite seiner Sportbolide, machte sich an seinen Blech gewordenen Bubenträumen zu schaffen. Liebevoll, als trockne er beim Betrachten von «Pretty Woman» die Tränen seiner Angebeteten, wischte er mit einem Taschentuch letzte Wassertropfen von der Karosserie. Ein Blick in den Kofferraum des Objektes seiner Begierde legte die Sicht auf eine Fülle von Fläschchen und Tuben, Dosen und Tiegel, Läppchen und Schwämmchen frei, wie man sie sonst nur im Necessaire einer Jet-Set-Lady vermutet.
Der Zärtlichkeit, mit der er eine Politur in die Motorhaube einmassierte, wohnte der Hauch von Erotik inne. Für einen kurzen Moment wähnte ich mich mehr im Spa eines Luxushotels, denn am Ausgang einer Autowaschstrasse. Kein Zweifel, mein Staubsauger-Nachbar mit den Bizepsen in Form und Grösse polierter Bowlingkugeln, musste äussersten Wert auf penible Reinlichkeit legen. Ich nickte ihm anerkennend zu und meinte: «Ihre Holde kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Sie zu haben. Da ist die Wohnung bestimmt immer tipptopp in Schuss …»
Sein Blick trübte sich wie ein Scheinwerferglas auf der Fahrt über einen verregneten Feldweg. Ob ich des Wahnsinns sei, fragte er unter kategorischer Vermeidung des Genitivs. Putzen sei definitiv nur etwas für Frauen. Ich lächelte leicht irritiert, bestieg mein Fahrzeug und fuhr los, nach Hause, wo ich versprochen hatte, das Wohnzimmer staubzusaugen.
Der Autor mag «Pretty Woman» noch weniger als Hausarbeit.
7. Juni 2018 – 27: Der Maggiafluch
Meine Eltern erzählten stets, ich sei als kleiner Junge ein Blumenkind gewesen, und ich hätte an keiner Knospe oder Blüte, Rispe oder Ähre, Spirre oder Dolde vorbeigehen können, ohne sie fasziniert zu betrachten. Der Sinn für die Flora wurde in der Pubertät von anderen Interessen verdrängt und keimte erst wieder auf, als wir in dieses alte Pfarrhaus mit Garten zogen.
Ein: «Aus diesem Gras wird nie etwas!» von meiner Holden weckte in mir den Ehrgeiz, einen Rasen zu kultivieren, auf den man selbst in Wimbledon neidisch wäre. Ich warf allem Unkraut den Fehdehandschuh hin und rüstete mein Arsenal an Pestiziden auf.
Das letzte Wochenende verbrachten wir im Tessin. Auf dem Weg durchs Maggiatal fragte meine Frau, was das wohl für Grünzeug sei, dort im Wald. «Unkraut!», zischte ich, worauf sie entgegnete, ich solle meine Zunge zügeln, bevor ich Opfer des Maggiafluchs würde und meine Seele erst dann Ruhe fände, wenn ich sämtlichen Beiwuchs im gesamten Tal gejätet hätte.
Nachts träumte ich, wie im Jahr 2500 eine Tessiner Elisabeth Pfluger von einem Frevler erzählt, der seit einem halben Jahrtausend Tag und Nacht durch die Wälder des Maggiatals streifen müsse, um Unkraut auszurupfen und nicht eher sterben könne, bis er auch das letzte Pflänzchen eliminiert habe.
Schweissgebadet wachte ich auf und beschloss kurzerhand, das Grün in unserem Garten nicht mehr länger Rasen, sondern Wiese zu nennen. Ob es einen Maggiafluch gibt, weiss ich nicht. Aber sicher ist sicher … und seither finde ich die Wildblumen auf unserer Matte ganz hübsch.
19. April 2018 – 26: Haartracht
Es ist wohl einzig der Beisshemmung dieses muskulösen Mannes geschuldet, dass ich aktuell noch lebe. Als ich ihn jüngst aus naiver Neugier fragte, ob er zum Zeichen seiner Sympathie mit Kim Jong Un die Haare auf der Seite geschoren und oben in Form eines überdimensionalen Blutegels trage, zeigte er sich irritiert. Meine zynische Feststellung, in den 1940er-Jahre hätte er mit seiner Haartracht perfekt in die braune Uniform gepasst, quittierte er (nach einigem Grübeln) mit: «Ich schlage keine alten Leute, sonst wärst du jetzt so etwas von tot, Mann …» Merci.
Nur unwesentlich beliebter hätte ich mich um ein Haar bei einer Gruppe markant bebrillter Endzwanziger gemacht, die Chai Latte schlürfend lethargisch über den Asphalt schlurfte. Von hinten betrachtet mahnten ihre zu Dutten zusammengeknoteten Haare, in Kombination mit dunkel glänzenden Daunenjacken, unweigerlich an Müllsäcke am Strassenrand. Ich konnte mich gerade noch bremsen, jeden Einzelnen mit einer Entsorgungsmarke zu bekleben.
Zurückgehalten habe ich mich auch bei den beiden Studenten mit ausgefranzten, naturbelassenen Bärten, die mit Rucksäcken auf den Schultern am Perron die Einfahrt eines Intercitys abwarteten. Weil ihr Aussehen beide Schlüsse zuliess, hätte ich gerne von ihnen erfahren, ob sie mit Interrail Europa erkunden oder als Kämpfer in den Jihad ziehen wollen. Aus Angst, es könnte sich um Zweiteres handeln, kämmte ich mir jedoch bloss fahrig mit den Fingern eine Strähne aus der Stirn und trottete von dannen – zum Coiffeur.
Der Autor trägt Seitenscheitel. Links.
15. Februar 2018 – 25: Tolerierte Intoleranz
Es ist noch keine gefühlte drei Jahre her, da gestalteten sich die Speisekarten führender Restaurants meist so leicht überschaubar wie die Teller der Hauptgerichte. Ein konzentriertes Angebot aus regionalen, marktfrischen Zutaten, meisterhaft frisch zubereitet – ein Gedicht!
Dann folgte die Deklarationspflicht für Fleisch, die ich gut nachvollziehen kann, denn schliesslich ist es unser gutes Recht, zu erfahren, ob wir mit dem nächsten gezielten Gabelhieb ein glückliches Schwein harpunieren oder eine arme Sau. Zuweilen instruierten die Gastronomen ihr Servicepersonal derart perfekt, dass dieses einem nicht nur den Hof des Lieferanten, sondern sogar die Namen der in die Pfanne gehauenen Tiere aus dem Stegreif zu nennen imstande war.
Zwischenzeitlich lesen sich Menükarten beinahe wie die Beipackzettel verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Im Kleingedruckten, das den allgemeinen Geschäftsbedingungen von Versicherungen in nichts mehr nachsteht, sind sämtliche möglichen Allergene von Gluten über Eier, Schalenfrüchte und Senf bis hin zu Lupinen fein säuberlich gelistet. Die Lektüre erweckt den Eindruck, als raffe es die vermeintliche Krönung der Schöpfung demnächst an Sesam dahin.
Dennoch, die Allergie-Hysterie hat auch ihre Sonnenseiten: Seit unsere Tochter ihre Aversion gegen Zucchini nicht mehr offen eingesteht, sondern als schwere Intoleranz (wenn nicht sogar Allergie!) deklariert, wird sie nicht länger von oben herab verspottet, sondern voller Mitleid bedauert. Und das schmeckt ihr ...
Der Autor ruft zu mehr Toleranz für Intoleranzen auf.
9. November 2017 – 24: Kalter Krieg
Wenngleich ich mich geflissentlich eines pazifistischen Gedankenguts bemühe, entbrennen sporadisch Konflikte, deren groteske Seite mich zu amüsieren vermag. Einer davon bahnt sich aktuell auf vielen heimischen Balkonen und in Vorgärten an. Wenn die Temperaturen sinken und Weihnachten am Horizont erscheint, ist die Zeit eines ganz speziellen Kalten Krieges gekommen.
Die Plastik-Skelette mit den Konturen von Rentieren, Schlitten, Hirschen, Rehen und Weihnachtsmännern verheissen einen heissen Advent. Auch wenn sie des Abends vielerorts noch ausgeschaltet bleiben und ihren hektisch blinkenden Rotlichtmilieu-Charme erst später versprühen werden, schreckt ihre schiere Präsenz Besitzer von konventionellen Lichterketten bereits heute ab. Und so mancher Buchsbaum bleibt undekoriert, weil in der Nachbarschaft derart kräftig aufgerüstet wurde, dass das eigene Illuminations-Arsenal verschwindend bescheiden wirkt wie ein bengalisches Zündhölzchen neben dem Oensinger Feuerwerk zur Sonnwende.
Doch noch bleibt genügend Zeit für einen Grosseinkauf im Baumarkt. Noch ist es nicht zu spät, sich eine komplette Herde von funkelnd glitzernden Stromtieren zuzulegen und sie strategisch intelligent, von der Strasse aus gut sichtbar, in Position zu bringen. Millionen Laserpunkte aus der Lichtkanone werden das gepflegte Eigenheim zusätzlich in festlichem Glanz erstrahlen lassen. So sind wir gewappnet, um am Tag X angemessen auf Nachbars Erstschlag zu reagieren und ihn mit vorweihnachtlicher Stimmung zu übertrumpfen. Der Countdown läuft, das Fest der Liebe kann kommen.
Der Autor wünscht frühzeitig allen eine erleuchtete, erleuchtende Adventszeit.
19. Oktober 2017 – 23: Titel machen Leute
Endlich kämpfe ich mich wieder einmal durch den Stapel von Visitenkarten, der sich in meiner Schreibtischschublade aufgetürmt hat. Andächtig lese ich die Berufsbezeichnungen und Titel, bis mir beinahe schwindlig wird. Unglaublich, welch bedeutenden Protagonisten der Weltwirtschaft ich offenbar in der letzten Zeit begegnet bin, ohne mir darüber richtig im Klaren zu sein.
Der nervöse, windige Verkäufer mit dem fettigen Haar, der mir einen Eintrag in irgendeinem Online-Telefonbuch schmackhaft machen wollte, ist nichts Geringeres als ein «Head of Sales & Key Account Manager». Die abgetakelte Mittfünfzigerin, die mich im zu knappen Ledermini und mit penetranten Parfüm für Werbung auf Pissoirs zu motivieren versuchte, bekleidet den Rang eines «Chief Marketing Officer & Board Member». Und der kaum der Grundschule entwachsene schnoddrige Schnösel mit den nikotingelben Fingern und den geweiteten Pupillen, der fand, eine Firma, die seinen Anlass nicht als Sponsor unterstütze, sei dem Untergang geweiht, entpuppt sich jetzt, im Nachhinein, als «Managing Director & Customer Experience Manager». Früher machten Kleider Leute, heute sind es Titel.
Was in meiner Telefonliste jetzt noch fehlt, ist die Nummer eines Unternehmers. Der Mann hat mit Einsatz, Geist und harter Arbeit aus dem Nichts die weltweit grösste und bedeutendste Firma seiner Branche erschaffen, beschäftigt über 2‘400 Menschen und zählt gemäss «Bilanz» zu den 300 reichsten Schweizern. Im Telefonbuch finde ich ihn auf Anhieb mit Adresse und Telefonnummer. Auch eine Berufsbezeichnung steht neben seinem Namen: «Mechaniker».
Der Autor ist gelernter Elektromechaniker. Heute schmückt aber ein englischer Titel seine Visitenkarte.
17. August 2017 – 22: Total emojional
Wer sich auf Urlaubsreisen über die Grenzen seiner linguistischen Komfortzone hinaus wagt, wüsste zuweilen gerne einen Dolmetscher an seiner Seite, auf dessen Mehrsprachigkeit man sich bei Bedarf verlassen kann.
Übersetzer sind unverzichtbar. Sie machen uns Fremdes zugänglich, bauen Sprachbarrieren ab, ebnen den Weg zur Verständigung. Man munkelt, ihr diplomatisches Geschick hätte schon Kriege verhindert, und so manchem Buch wurde erst durch das Talent seiner Übersetzerin ein stilistischer Wert eingehaucht.
Doch was ich neulich in einem Radiobericht vernahm, liess mich erschreckt aufhorchen: In London engagierte ein global agierendes Sprachdienstleistungsbüro den ersten Emoji-Übersetzer der Welt. Jemanden also, der diese kleinen Piktogramme erforscht, die unserer Sprache auf Online-Plattformen und in Textnachrichten Schlimmeres antun, als eine Horde Zünsler stattlichen Buchsbäumen, sie akkurat erfasst, wissenschaftlich interpretiert und katalogisiert.
Vor meinem geistigen Auge erscheinen Archäologen, die dereinst den Computer des Emoji-Verstehers zutage fördern, ihn zum Funktionieren bringen und seine Dateien quasi als Rosettastein zur Deutung unserer Sprache einsetzen werden. Ob all der Emojis dürften sie zum Schluss gelangen, dass es sich bei der Menschheit des frühen 21. Jahrhunderts um Primitive gehandelt haben muss, die nicht in der Lage waren, komplexe Sachverhalte auszudrücken, geschweige denn zivilisiert miteinander zu diskutieren. Und wenn man die aktuellen Nachrichten verfolgt, spricht leider nichts gegen ein derart vernichtendes Fazit.
Der Autor zieht Wörter den Hieroglyphen der Jetztzeit vor ;o)
8. Juni 2017 – 21: Alles (ver)klappt
Es sind viele Flaschen, die ich, akkurat nach Farbe getrennt, entsorge. «Hast du jetzt auch Ristorante?», fragt mich Beizer Raffaele, der harassenweise Leergut zur Sammelstelle bringt. «Besuch», rechtfertige ich mich. Dann fällt unser Blick auf einen fahlen, traurigen Mann Mitte dreissig, der sein Velo unter Quietschen zum Stehen bringt und aus dem kindgerechten Anhänger ein altes Einmachglas zutage fördert. Mit seinen Blicken streichelt er es ein letztes Mal, bevor er das gesprungene Glas melancholisch in der mit «WEISS» gekennzeichneten Öffnung bestattet. Den verrosteten Deckel überantwortet er wehmütig der Metallsammlung. Dann hält er für einen Augenblick inne. Innerlich bläst er den Zapfenstreich, äusserlich entledigt er sich kurz der selbstgestrickten Wollmütze, die ihm im Winter wohlige Wärme und im Sommer angenehme Kühle spendet.
Ein groteskes Bild. Doch nicht halb so grotesk wie der Anblick, der sich mir bei der Autobahneinfahrt in Egerkingen bietet. Am Rand der Rechtskurve liegen, komplett unzivilisiert, Zivilisationsabfälle, die sich nach dem hastigen Verzehr von Fastfood angesammelt haben und mit Schwung flugs aus dem Autoinneren verbannt wurden. So happy das Meal auch gewesen sein mochte, so sehr leidet die Umwelt unter der dummdreist ignoranten Verklappung seiner Überreste.
Vor diesem Hintergrund fühle ich mich bei der nächsten Glasentsorgungsaktion fast schon als Weltenretter und sehe geflissentlich über das breite Grinsen eines anderen Entsorgenden hinweg, als ich nach erfolgten Einwurf meine Mütze absetze und einige Sekunden in andächtigem Gedenken verharre.
Der Autor sammelt Flaschen … und rettet Welten.
20. April 2017 – 20: Die Diktatur der Minderheit
Vergangene Nacht war ich im Traum eine Strassenlampe, die sich mit ihresgleichen zu Kaffee und Kuchen traf. Es herrschte ziemlich gedämpfte Stimmung. Durch die kürzeren Nächte und die Tatsache, dass kommenden Sonntag die beiden fehlenden Regierungsrätinnen gewählt sein werden, fielen vielen von uns kaum mehr tragende Rollen zu. Vor ein paar Wochen noch war das alles ganz anders. Da hätte man überall ein- und ausgangs der Ortschaften Zusatzkräfte gebraucht. Manche von uns hatten sogar zwei oder drei Wahlplakate gleichzeitig präsentiert. «Meine Kandidatin hat es mit einem Glanzresultat in den Kantonsrat geschafft», strahlte eine städtische Laterne von oben herab. «Meinem fehlte der Biss», klagte ein schütterer Pfosten düster. «Ein Windstoss, und weg war er.»
Was uns aber dimmte und tief im Innersten fast zum Kurzschluss brachte, war, dass wir trotz aller Anstrengungen gerade mal einen Drittel der Wahlberechtigten an die Urne zu bewegen vermocht hatten. Ein Kandelaber laberte, eine Minderheit diktiere hier, wo es lang gehe. «Doch selbst wenn die dort oben zuweilen machen, was sie wollen, so hätte es allein das Volk in der Hand, zu bestimmen, wer machen darf, was er will», resümierte er abgelöscht.
«Nach der Wahl ist vor der Wahl», tröstete uns ein alter, verwitterter Mast mit tiefen Narben von Steigeisen hölzern. «In zwei Jahren geht’s schon wieder um den National- und Ständerat.» Stimmt. Und in der Zwischenzeit machen wir halt ab und zu ein bisschen Werbung für ein Käferfest. Im Gegensatz zu Wahlen mobilisieren organisierte Besäufnisse wenigstens die Massen.
Der Autor zählt zur wählenden Minderheit.
16. März 2017 – 19: Wie in Abrahams Schoss
Ich liebe die Zeit, wenn der Winter langsam in die zweite Reihe zurücktritt und dem Frühling Platz für sein Solo macht. Der Garten erwacht, lechzt nach Aufmerksamkeit, der Grill schreit förmlich danach, endlich wieder befeuert zu werden.
In der Absicht, zu diesem Zweck Rohstoff vom Rind zu besorgen, parke ich vor einem Lebensmittelladen. Vergeblich krame in den Hosentaschen nach Kleingeld für die Parkuhr. Fünf Minuten später kehre ich mit Grillgut zurück. Mir fällt sofort die Parkbusse auf, die neckisch unterm Scheibenwischer klemmt, und im Augenwinkel sehe ich einen unscheinbaren Mann schelmisch grinsen. Nach dem abgewetzten Ledermäppchen unter seinem Arm zu schliessen, befindet er sich auf der Pirsch nach Parksündern.
Am Nachmittag fahre ich bei Sonnenschein und wenig Verkehr nach Bern. Im Cabrio streichelt mir der Fahrtwind zärtlich durchs Haar. Auf einmal zucke ich zusammen: Getarnt, wie ein fieser Heckenschütze, lauert ein Radarkasten hinter einem Brückenpfeiler und lässt meinen Puls mit seinem roten Blitz in die Höhe schnellen.
Abends bin ich um achtzig Franken ärmer und um eine wohltuende Erkenntnis reicher: Fühlte ich mich ob der angespannten geopolitischen Situation gestern noch verängstigt, verspüre ich jetzt eine unglaubliche Gelassenheit. Denn ein Land, in dem die Justiz derart vorbildlich greift, dass Kleinkriminelle wie ich für fünfminütiges Parken ohne zu bezahlen oder fünf Stundenkilometer zu schnelles Brausen augenblicklich rigoros bestraft werden, lässt dem Bösen keine Chance. Wie schön, denke ich, und fühle mich fortan sicher wie in Abrahams Schoss.
Der Autor findet achtzig Franken für das Gefühl der Sicherheit keinen überhöhten Preis.
16. Februar 2017 – 18: Fiat Lux!
Wir wohnen keine hundertfünfzig Meter Luftlinie vom nächsten Baumarkt entfernt. Meine Frau spricht von einer «bevorzugten Lage», denn wenn sie einmal ihre Ruhe möchte, braucht sie mich bloss loszuschicken, um Schrauben oder Nägel zu besorgen, und kann auf Nummer sicher gehen, dass ich mich in der Welt der Bohrhämmer und Stichsägen, der Armaturen und Schalter, der Baustoffe und Farben verliere, ob der Vielfalt an Zargen und Beschlägen die Zeit vergesse und erst Stunden später wieder zurückkehre.
So weit, so gut. Doch des Nachts, wenn die Sonne von der Dunkelheit über die Klippe des Horizonts gestossen wird, verwandelt sich der Garten Eden für Heimwerker zu einem gleissend hellen Eiland. Halogenstrahler illuminieren Werbeschilder, Gebäude und Umgebung derart grell, dass daneben jede Supernova erblassen würde. «Lichtverschmutzung!», protestieren die einen, «fiat lux!» mögen andere denken. Sonderschichten für Kraft- und Elektrizitätswerke dürften unausweichlich sein, damit die Stromversorgung der Stadt unter der Last nicht zusammenbricht.
Unlängst las ich einen Artikel über spezielle Schutzbrillen, die an Polizisten, Lokomotivführer und Piloten abgegeben werden sollen, um sie vor den heimtückischen Gefahren von hinterhältigen Blendangriffen mit Laserpointern zu bewahren. Ich bin davon überzeugt, dass all die Astro-, Kosmo- und Taikonauten, die in ihren Raumstationen im Orbit um die Erde düsen,
über ähnliche Ausrüstungsgegenstände verfügen und einander stets, wenn sie nächstens die Schweiz überfliegen, warnend zurufen: «Schnell, die Brillen, der Baumarkt geht auf!»
Meinrad Kofmel wünscht sich, dass die Nacht wieder vermehrt der Dunkelheit gehört.
10. November 2016 – 17: Der Frankenretter
Es herrschte Konsternation, als ich meinem Bankkundenberater einen Vorschlag für das Geschäft seines Lebens unterbreitete. Einen kurzen Moment dachte ich sogar, er würde in Ohnmacht fallen. Dann wurde er sich offensichtlich der Ernsthaftigkeit meines Ansinnens gewähr, räusperte sich kurz und verliess den Raum, um ihn in Gegenwart seiner Vorgesetzten wieder zu betreten.
«Sie möchten was?», fragte diese ungläubig. «Einen Kredit über eine Milliarde Franken», antwortete ich souverän und schob ein höfliches «Bitte» nach. «Wofür brauchen Sie so viel Geld?», wollte die Chefin wissen. «Ich möchte Ihnen helfen», erklärte ich. «Ich biete Ihnen an, den Kredit zu einem Negativzins von einem lächerlichen halben Prozent zu übernehmen. Ende Jahr zahle ich alles, bis auf fünf Millionen, zurück. Als Sicherheit dürfen Sie den gesamten Betrag in Ihrem Tresor horten. Deal?»
Eigentlich dachte ich, Bankberatern sei es unter Androhung von Bonusentzug verboten, in Gegenwart ihrer Kunden Gefühlsregungen zu zeigen oder gar in schallendes Gelächter auszubrechen. Offensichtlich lag ich falsch, denn meine Gegenüber kriegten sich nach dem kurzen Monolog nicht mehr ein und prusteten lauthals los.
Die zwei wollten meiner Argumentationskette partout nicht folgen, wonach es uns nachhaltig gelingen könnte, die Attraktivität des Schweizer Frankens zu senken, wenn nur genügend Selbstlose wie ich Milliardenkredite zu Negativzinsen aufnehmen und mit dem dadurch verdienten Geld die Wirtschaft durch Konsum ankurbeln würden. Schade. Dann spiele ich halt wieder Lotto ...
Dem Autor wurde noch nie unterstellt, ein Finanzgenie zu sein.
11. August 2016 – 16: Ferienfolter
Gaby und Tom waren gerade dabei, uns mit ihren Ferienerinnerungen, die einem Romanschriftsteller nicht blumiger aus der Feder geflossen wären, zu teeren und zu federn. G&T, wie sie sich in Anlehnung an einen ihrer Lieblingsdrinks nannten, hatten gerade (einmal mehr!) die ganze Welt bereist und dabei offenbar (einmal mehr!) Abenteuer erlebt, für die normale Menschen mindestens neun Leben brauchen würden. «Und ihr?», fragten sie mit fieser Scheinheiligkeit, förmlich darauf brennend, dass meine Frau resigniert auf mich deuten und klagen würde: «Mit ihm kann man nie richtig verreisen. Er fliegt ja nicht.»
Aber ich war schneller. «Guantanamo Bay», sagte ich ernsten Blickes. Sie stutzten. Also setzte ich «Sport – zwei Wochen Waterboarding …» obendrauf. Verdutztes Schweigen. «Es war grossartig, ein echtes Erlebnis. Kein Massentourismus, Einzelzimmer, internationale Gäste, überhaupt nicht etepetete.» Ich hatte Fahrt aufgenommen. «Den Pool hatte man ganz für sich allein, überall aufmerksames Personal mit stets einem offenen Ohr, spannende Gespräche, amerikanischer Standard, was will man mehr … Ich sage euch, ein wahrer Geheimtipp für Adrenalin-Junkies. Ich kam übers Internet drauf; hab wohl die richtigen Seiten besucht. Was dann folgte, waren Tage in denen man Zeit und Raum komplett vergass, Emotionen pur und ein vollkommen neues Körpergefühl.»
«Cool!», meinten G&T knapp. Ein Hauch von Neid hing süss in der Luft. «Da fahren wir in den nächsten Ferien auch hin!» «Unbedingt», bekräftigte ich sie. «Ich wünsche euch, dass ihr ganz lang dortbleiben dürft.»
Der Autor lernte in den Ferien mit seiner Familie Prag kennen und lieben. Für den Nervenkitzel sorgten deutsche Autobahnen.
19. Mai 2016 – 15: Asche
«Mutter starb ganz plötzlich», erzählt Nicole mit einem dicken Kloss im Hals. «Und kurz darauf brannte auch noch ihre Wohnung aus.» Ich schüttle sprachlos den Kopf. «Der Radiowecker sei’s gewesen, haben sie gesagt, irgendein Kurzschluss.» Ja, davon hat man schon gelesen. «Das Schlimmste ist aber, dass im Feuer alle Fotos und Dokumente, alle Briefe und Tagebücher in Flammen aufgegangen sind. Alles, was blieb, war Asche – von ihrer gesamten Habe ... und nach der Kremation von Mutter ebenfalls.» Ich unternehme keinen trostlosen Versuch, sie zu trösten.
«Der Haushalt war schnell aufgelöst. Ein paar Behördengänge, ein paar Formulare, ein Besuch auf der Bank, und schon deutete nichts mehr darauf hin, dass es sie einmal gegeben hatte. – Ausser ...» «Ausser?», frage ich neugierig. «Ausser das Abonnement von ‹50plus›. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es abzubestellen. Jetzt flattert mir jeden Monat eine Ausgabe mit ihrem Namen in den Briefkasten und gaukelt mir für einen Moment vor, sie lebe noch.» Ich muss schmunzeln. «Als Erstes löse ich immer das Kreuzworträtsel, so wie sie es stets getan hat. Dann schicke ich sofort die Lösung ein.» «Sie hat nie etwas gewonnen», erinnere ich mich. «Ich schon. Ferien!», verrät Nicole stolz. «Nächstes Wochenende fahre ich zum Wellnessen ins Bündnerland.»
Ich freue mich für sie, denn ich bin sicher, die Tage werden Balsam für ihre Seele sein. Zu Hause bestelle ich mir ein Abonnement besagter Zeitschrift und hoffe dabei insgeheim, dass meine Tochter dereinst auch ein Wellnesswochenende gewinnen wird. Aber das hat noch Zeit. Sehr viel Zeit.
Der Autor verabschiedet sich mit diesen Zeilen für immer von Hanni und von Roger.
11. Februar 2016 – 14: Berufe(n)
Mit zehn träumte ich im Aufsatzklassiker «Was ich einmal werden will» vom Beruf des Pfarrers. Dazu hatte die Klasse auf Bubenseite noch ein paar Lokomotivführer, Polizisten, Kapitäne, Piloten und Ärzte im Angebot. Spätestens mit aufkeimender Pubertät wurde mir bewusst, wie grandios ich als Kirchenmann scheitern würde, und so investierte ich die Fünfliber, die mir eine Tante dann und wann «fürs Priesterseminar» zusteckte, in Süssigkeiten, die auf meinen Hüften Zinsen trugen, und in Hochglanzliteratur, die ich vorzugsweise unter dem Pullover an den Eltern vorbei in mein Zimmer schmuggelte.
Wie sehr sich die Zeiten und mit ihnen die Berufsbilder geändert haben, wurde mir jüngst bewusst, als ich dem zehnjährigen Spross unserer Gäste die Karrierefrage stellte. «Reich!», schoss er mir die Antwort mitten ins Gesicht. «Ist das alles?» Er lud nach: «Berühmt!» Mein Interesse, auf welchem Weg es der Dreikäsehoch zu Ruhm und Geld bringen wolle, betrachtete dieser kopfschüttelnd als törichte Unwissenheit eines Greisen. «Ich werde YouTube-Star!»
Kurz darauf blies man zum Aufbruch. «Die Tierheime machen sonst zu», erklärte die Mutter, «und Elias braucht unbedingt ein flapsiges, hässliches Kätzchen für seine Filme.» «Die Clips werden mich reich und berühmt machen», weihte mich Klein-Hitchcock ein und ergänzte kess: «Ich muss nicht arbeiten; nur die doofe Katze filmen und vermarkten.»
Was aus dem Jungen später auch immer werden wird, eines scheint gewiss: Wenn es mit dem YouTube-Star nicht klappt, schafft er es zweifellos als Wirtschafts- und Marketingprofessor zum Star der Hörsäle.
10. Dezember 2015 – 13: Die schwarze Liste
Keine Epoche bleibt von Plagen verschont. Im Mittelalter grassierte die Pest, heute tut dies das Telefonmarketing. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht unaufgefordert wildfremde Stimmen belästigen, um uns mit aufdringlicher Hartnäckigkeit irgendetwas zu verkaufen.
Als die Frequenz der Telefonate noch erträglich war, machte ich mir einen Sport daraus, meine Gesprächspartner pointiert ironisch abzuwimmeln. Mit der Anrufkadenz steigerte sich jedoch auch mein Ärger. Also suchte ich nach einem Weg, um bei den Callcenters in den Rang einer unerwünschten Person, einer persona non grata, abzusteigen. Doch weder giftiger Zynismus noch kasernenhofreifes Krakeelen zeitigten Wirkung. Deshalb greife ich jetzt, in der Vorweihnachtszeit, zum Äussersten und singe Werbeanrufenden aus voller Kehle mit meinem chronisch indisponierten Bass-Bariton das «Stille Nacht» vor – selbst wenn sich ob meiner Talentfreiheit sein Komponist im Grabe umdrehen dürfte.
Neulich erzählte ich einer Bekannten stolz von meiner Strategie. Sie verstummte abrupt, um mir dann empört zuzuzischen, dieses Lied stünde in der Schule, an der sie unterrichte, (wie übrigens alle Weihnachtslieder!) auf der schwarzen Liste, weil es die Gefühle Andersgläubiger verletzen könnte. «Das ist eine Posse!», entfuhr es mir. Sie schüttelte den Kopf: «Politische Korrektheit.» Ich schluckte leer. Doch dann keimte ein Hoffnungsfunke in mir auf. Vielleicht schaffe ich es dank einer Volksweise, die man aus Käthis Schulzimmer verbannt hat, doch noch auf die schwarze Liste der Callcenters. Und das wäre fürwahr ein famoses Weihnachtsgeschenk.
5. November 2015 – 12: Geniale Welt
Ich haste an einem Spielplatz vorbei, als mich auf einmal die Fetzen einer Konversation die Schrittkadenz verlangsamen lassen. Eine Mutter versucht, mit dem Talent einer Vorabendserien-Schauspielerin, peinlich berührt zu wirken. Vergeblich, denn in ihren Worten schwingt unüberhörbarer Stolz mit, als sie, am Sandkastenrand kniend und auf den blonden Dreikäsehoch deutend, wimmert: «Wir haben ihn abklären lassen. Er ist hochbegabt!» Mutter zwei fühlt sich herausgefordert, steigt in den Wettstreit ein und schildert, wie enorm sie darunter leidet, dass ihre Claire mit dreieinhalb bereits die kognitiven Fähigkeiten einer Zwölfjährigen besitzt. Das kann Mutter drei nicht auf sich sitzen lassen und jammert, ihr vierjähriger Matthieu werde mit zwanzig voraussichtlich einen IQ von über 200 erreichen. Er spiele virtuos Klavier und halte die chronische Unterforderung in der Vorschule nur dank Ritalin aus.
Ich bin baff. Im Mikrokosmos dieses einen Sandkastens scheinen sich gleich drei angehende Nobelpreisträger zu tummeln. Die Eintracht hat ein Ende, als der Mozart dem Einstein das Sandförmchen entreisst. Marie Curie schreitet ein, indem sie dem Mathematiker ihr Plastikschäufelchen direkt auf die Fontanelle knallt. Dafür hat der Klaviervirtuose kein Musikgehör und bewirft seinerseits die Chemikerin mit einer Handvoll Sand. Sekunden später rennen die drei Giganten des Geistes tränenüberströmt zu ihren Müttern.
Ernüchtert konstatiere ich: Auch wenn die Welt dereinst nur noch von Genies bewohnt und gelenkt werden sollte, ist das noch lange keine Garantie dafür, dass sie eine friedlichere wird.
6. August 2015 – 11: Der Pflanzenfresserfresser
Wochenmarkt. Dichtes Gedränge. Eine kleine Promenadenmischung schlängelte sich zielstrebig, wie einst Ingemar Stenmark durch die Slalomstangen, zwischen den Beinen der Marktbesucher durch. Sein Ziel war der Stand, an dem ich gerade Bündnerfleisch degustierte. Das Tier wedelte mit dem Schwanz, setzte seinen treuherzigsten Hundeblick auf und sah der Verkäuferin unterwürfig bettelnd in die Augen. «Na, du bist aber ein Süsser», flattierte ihm diese, «magst du ein Fleischi?» Ihre Hand hatte das Holzbrettchen mit den feinen Tranchen noch nicht erreicht, als eine verzweifelte Stimme durch die Menge drang. Sie gehörte einer nicht mehr ganz jungen, erstaunlich bunt gewandeten Dame. «Um Himmels willen, nein!», schrie sie, als führe man sie unschuldig zum Schafott. «Kein Fleisch ... er ist Vegetarier!»
Die Marktfrau stutzte gemeinsam mit allen anderen Zeugen dieser skurrilen Szene. Um sicher keinem Missverständnis zu erliegen, fragte sie nach: «Wer?» «Gandhi», präzisierte die Dame, «mein Hund.» «Hunde stammen von den Wölfen ab und sind Fleischfresser», stellte die Fleischfachfrau ihr Fleischfachwissen unter Beweis. «Nicht mein Gandhi», widersprach die Bunte mit dem grauen Haar. «Der ernährt sich rein pflanzlich. Mein Hund ist Vegetarier!»
Ich hielt dem Tier ein paar verführerisch duftende, hauchdünne Fleischscheibchen vor die Schnauze. Er schnappte gierig danach und verschlag sie genüsslich. «Alles in Ordnung», beruhigte ich die Menschentraube, die sich zwischenzeitlich gebildet hatte, und erinnerte mich daran, dass Rinder Pflanzenfresser sind. «Der Hund isst tatsächlich Vegetarier.»
14. Mai 2015 – 10: Die Volksseuche
Als sich die Tür zum Wartezimmer öffnete und die Praxisassistentin meinen Namen rief, schnellte ich flinker aus dem Stuhl als Usain Bolt aus den Startblöcken. Im Vorbeirennen warf ich den alten, abgegriffenen «Nebelspalter», in dem ich ohne zu lesen geblättert hatte, auf das Tischchen in der Mitte des Raumes und huschte schnurstracks ins Behandlungszimmer. Noch bevor mich der Arzt nach meinen Gebrechen fragen konnte, wartete ich mit einer niederschmetternden Diagnose auf: «Ich habe einen Hirntumor und brauche sofort eine CT, eine MRT und eine PET, um ihn zu lokalisieren.» Des Mediziners Frage, woher ich mir dessen so sicher sei, beantwortete ich mit: «Ich habe meine Symptome gegoogelt.»
Der Doktor konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Längst war ihm die Volksseuche Internetdiagnose hinlänglich bekannt. Immer öfter versammelten sich in seiner Praxis Hypochonder wie du und ich, um sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen zu lassen und um zu erfahren, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Als Dr. House noch im Fernsehen lief, hatte er bei einer bestimmten Klientel erst dann als kompetent gegolten, wenn er Lupus als Ursache der Beschwerden mit Sicherheit ausgeschlossen hatte.
Nach der Untersuchung schaute er mir tief in meine von Panik gezeichneten Augen, schüttelte langsam den Kopf und eröffnete mir vermeintlich Todgeweihtem: «Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die schlechte: Sie werden sterben.» Nach einer künstlerischen Pause fügte er hinzu: «Wann, weiss ich nicht. Das weiss niemand. Aber dass es nicht an diesem Kater sein wird, mit dem Sie heute herkamen, das weiss ich bestimmt.»
5. Februar 2015 – 9: Der Idi-Jod
«Hast du die Jodtabletten eingepackt?» fragte ich meine Frau leicht verunsichert auf dem Weg von der Haustüre zum Auto. Etwas gereizt verdrehte sie die Augen. «Selbstverständlich. Willst du nachschauen?» Den zynischen Unterton überhörend bejahte ich und förderte nach einigem Kramen in ihrer Handtasche eine Pillenschachtel mit der Aufschrift «Kaliumiodid 65 AApot» zutage. «Jedes Mal das gleiche Theater, wenn wir nach Schönenwerd fahren», zischte sie entnervt, während sie die Tabletten wieder in den unendlichen Weiten ihres Täschchens verschwinden liess.
«Ich könnte Thereses Einladung viel mehr geniessen, wenn sie nicht neben einem Atommeiler wohnen würde», rechtfertigte ich mich. Seit der Verteilradius für Jodtabletten als Antwort auf Fukushima von 20 auf fünfzig 50 Kilometer um die Standorte von AKWs erweitert wurde, nehme ich die potenzielle Bedrohung viel bewusster wahr. Die Betreiber vermeiden es zwar tunlichst, das böse Wort Atom in den Mund zu nehmen und sprechen beruhigend von Kernkraft, aber bei der Vorbeifahrt warf das verschwindend kleine Restrisiko durch die schiere Präsenz des kolossalen Kühlturms einen bedrohlichen Schatten.
Thereses Gulasch auf dem Teller und Gösgens Kühlturmwolke im Augenwinkel, verbrachten wir einen vergnüglichen Abend. Wieder zu Hause, kurz vor dem Einschlafen, seufzte meine Frau: «Manchmal bist du ein richtiger Idi-Jod! Mir graut vor nächstem Monat.» «Warum?» fragte ich naiv. «Da besuchen wir deine Cousine und ihren Mann.» Auf einen Schlag war ich hellwach. Mein Herz raste. Angstschweiss schoss mir auf die Stirn. – Hedy und Guido wohnen in Mühleberg …
6. November 2014 – 8: Der Kürzeste
Angeregt debattierten sie während des Zmittags – pardon – des Business Lunchs, wenn sie nicht gerade ihre E-Mails am Smartphone checkten. Man konnte sich des Gefühls nicht erwehren, die Welt stünde still, wenn es die vier Geschäftsherren nicht gäbe. «Fünfeinhalb. Auf keinen Fall mehr», warf der Träger der grünen Krawatte in die Runde. Die Nadelstreife lachte abschätzig: «Fünf – mehr wäre übertrieben.» Das karierte Hemd schaltete sich grinsend ein: «Vier. Maximal.» Und die randlose Brille posaunte vollmundig: «Drei Stunden. Mehr kriegt mein Körper nicht. Es ist der Triumph des Geistes über das Fleisch, meine Herren. Schlaf ist reine Verschwendung von Lebenszeit. Das Business schläft nie. Die Welt, sie dreht sich. Irgendwo ist immer Tag, und wer pennt, verpennt seine Chancen.» Die Runde nickte, zahlte und löste sich auf.
Ein paar Tage später traf man sich wieder und verlieh der Szenerie durch reine Präsenz etwas Bedeutungsschwangeres. Die randlose Brille allerdings fehlte. Von Zusammenbruch habe man etwas gehört, wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Die grüne Krawatte brabbelte von natürlicher Selektion und dass es die Schwachen halt zuerst nehme. Die Tür öffnete sich und Frau Brandstädter, Unternehmerin des Jahres, trat ein. Von den Schlaflosen nach dem Geheimnis ihres Erfolges befragt, meinte sie lächelnd: «Sie werden es nicht glauben, aber die Idee für mein Geschäft habe ich ganz einfach geträumt.» Ratlos starrte man sich in die von schwarzen Ringen umrahmten Augen, und blanker Neid stieg auf, als Brandstädter ausgeschlafen ergänzte: «Den Seinen gibt’s der Herr halt im Schlaf.»
7. August 2014 – 7: Gestrandet
«Pattaya wäre toll», schwärmte Tinu, während er im Unterhemd mit seinem Nachbarn am Gartenzaun stand, «da gäb’s was zu sehen: gertenschlanke Asiatinnen in winzigen Bikinis.» Rudi blickte schwärmerisch gen Himmel: «Oder Rio; dieses Samba-Gehupfe macht einfach fabelhafte Figuren. Und Stoff scheint dort echt Mangelware zu sein …» Er lachte. «Ibiza würde ich auch nicht verachten; überall junge Partydinger in Feierlaune …»
«Tinu!» Regis tragende Stimme schallte durchs offene Schlafzimmerfenster und holte die beiden Ferienexperten binnen Sekundenbruchteilen zurück in den Garten. «Passt dir deine blau-karierte Badehose von letztem Jahr eigentlich noch?» Verstohlen sah der Befragte nach unten. Auf dem Weg zu Boden entging seinem Blick der Feinripp, der bedenklich über dem Bierbauch spannte, nicht. Und die Zehen waren nur ansatzweise zu erkennen, wie sie aus den Adiletten hervor lugten. «Brauchst sie nicht einzupacken, Schatz!», rief er zurück. «Ich kaufe mir eine neue. Kariert ist nicht mehr in Mode, und jetzt ist sowieso überall Ausverkauf.»
«Wo geht’s hin?», wollte Rudi wissen. «Ins Tessin», antwortete Tinu etwas kleinlaut. «Mit dem Zug?» «Nein, Auto.» «Wann fahrt ihr?» «Morgen.» Rudi trat einen Schritt näher. Der beiden Nachbarn Bäuche berührten sich über dem Zaun. Er klopfte Tinu auf die Schultern und meinte aufmunternd: «Da hast du alles auf einmal: Anders als du ist Regi immer noch toll in Schuss, in den Grotti isst du besser als in Pattaya, die Hotels sind mindestens so teuer wie auf Ibiza, und mit Stau am Gotthard seid ihr länger unterwegs als nach Rio.»
15. Mai 2014 – 6: Lagerkost
Seit über zwanzig Jahren bekocht Heidi die örtliche Schuljugend in Klassenlagern. Sie, mittlerweile seit vier Jahren pensioniert, liebt es, Kinder beim Heranwachsen zu beobachten, zu spüren, wie sich in den paar Tagen ohne Eltern Persönlichkeiten entwickeln und Charaktere entfalten.
In den letzten Jahren wurde die Zeit vor der Abreise für Heidi immer mehr zum Spiessrutenlauf. Sie wurde im Supermarkt angesprochen, erhielt Telefonanrufe und Briefe, Mails und SMSen. Frau Güls besorgtes: «Für Hassan kein Schweinefleisch!» und Frau Levys ermahnendes: «David isst nur koscher!» kannte sie schon längst. Von Mal zu Mahl gesellten sich aber neue Wünsche hinzu: «Aida-Luzia ernährt sich rein vegetarisch», war noch der bescheidenste. Anouks Seelenheil schien von rein veganer Kost abzuhängen, Rosamaria-Elisabetha durfte ausschliesslich mit Lebensmitteln von bio-zertifizierten Landwirtschaftsbetrieben bekocht werden, Kevin-Jonhannes litt unter Laktoseintoleranz, Tina-Maria benötigte glutenfreie Kost. Anna-Regenbogenblumes Mutter schliesslich schwor auf streng makrobiotische Alimentation.
Das Damoklesschwert aller Wünsche, Ge- und Verbote ignorierend, kochte Heidi am ersten Lagerabend das, was sie schon seit über zwanzig Jahren am ersten Lagerabend immer zu kochen pflegte: Hörnli mit gemischtem Hackfleisch, dazu selbstgemachtes Apfelmus. Nicht der geringste Rest blieb übrig. Dutzende zufriedener Kinderaugenpaare schauten sie dankbar satt an und wünschten sich sehnlichst, dass Heidi auch im nächsten Jahr wieder die Lagerküche führt.
6. Februar 2014 – 5: Justitia
Neulich kam Bieri etwas zerknittert und in Begleitung eines Mannes im Massanzug zum Stammtisch. «Herr Bieri lässt sie grüssen, egal welchem Geschlecht, welcher Ethnie, Religion oder Gesinnung Sie angehören», verkündete dieser mit feierlicher Stimme. Dann orderte der Herr im feinen Zwirn Bier, Most, Wein und Mineralwasser. Als die Kollegen Bieri verdutzt ansahen, schob der Krawattenträger seine Nickelbrille mit Daumen und Mittelfinger zurecht und erklärte, er berate als Anwalt Herrn Bieri hinsichtlich dessen Auftreten und Aussagen im öffentlichen Raum. Und weil Bieri weder Bierbrauer, Obstbauern, Winzer noch Mineralwasserproduzenten bevorzugen, beziehungsweise diskriminieren wolle, bestelle er alles, was auf der Karte stehe. «Heutzutage weiss man ja nie, wem man an den Karren fährt», flüsterte der Mandant. «Politiker, Komiker, wir – keiner ist vor Klagen sicher.» Das leuchtete der versammelten Runde ein und stimmte sie nachdenklich.
Bevor sie aber alle nur noch in Begleitung eines Rechtsbeistands in die Beiz gingen, beschlossen sie, sich künftig bei Bieri zu Hause zum Feierabendbier zu treffen. Dort müssen sie sich mit ihrem Stammtischpalaver und ihren Herrenwitzchen nicht vor Justitia, sondern bloss vor Bieris Frau Annemarie fürchten.
Max, der Wirt, hat sich mit der Situation arrangiert. Bei ihm treffen sich nämlich seit einigen Wochen abends Anwälte, schweigen sich argwöhnisch an und trinken sich quer durch die fantasievoll ausgebaute Getränkekarte. Im Gegensatz zu seinen neuen Gästen, sagt er, könne er nicht klagen.
7. November 2013 – 4: Unter Haltung
Wenn sich dieser Samstage die Pforten der Mehrzweckhallen im Gleichtakt mit den Herzen und den Brieftaschen der in die Säle strömenden Menschen öffnen, tun sie Kunde davon, dass die Zeit der Turnerunterhaltungsabende wieder angebrochen ist.
In der Vergangenheit konzentrierte ich mich zu sehr auf die oft ungewollt komische Seite derartiger Veranstaltungen. Doch wenn im grellen Scheinwerferlichte, und zum Wohle der Vereinskasse, diffuse Talente zu schillerndem Glanz erstrahlen, wird mir heute klar, welch bedeutenden Beitrag Turnvater Jan zu Akzeptenz und Toleranz geleistet hat.
Denn da mutiert der engstirnige Griesgram zum eloquenten Kosmopoliten und das wortkarge Mauerblümchen zum mondän polyglotten Vamp, der homophobe Halbstarke zwängt sich ins rosarote Tutu, und die traditionsverliebte Lokalpatriotin entlockt virtuos einer Mizmar orientalische Klänge. Ali rappt, Fatma bauchtanzt, Haruki zeigt Ninjakunst. Dazwischen geben Gruppen selber choreografierte Darbietungen zum Besten, deren mangelnde Synchronizität mit wahrer Inbrunst mehr als wettgemacht wird, was die begeisterten Zuschauer mit frenetischem Applaus honorieren. Aus einem grauen Neben- wird ein buntes Miteinander, und zur Polizeistunde klingt es unisono, welch wunderbarer Abend dies doch war.
Ich wünschte mir, dass im gesellschaftlichen wie politischen Alltag diese offene, unvoreingenommene Haltung, wie sie an Turnerunterhaltungen anklingt, nachhallt und wir nicht immer wieder unsere Alltagsgesichter aufsetzen und uns in unsere Leben zurückziehen wie Schildkröten in ihre Panzer.
8. August 2013 – 3: Der Zoo
Einen Grossteil ihrer Ferien verbringen Heinz und Erna im Gäupark, jenem Menschenmagneten am Jurasüdfuss, der seine Besucher nicht nur zum Einkaufen anzieht, sondern auch einfach nur zum Schauen. Kurz nach Ladenöffnung setzen sie sich auf eine strategisch gut gelegene Bank und beginnen mit ihrer Observierung.
Geheimagenten werden darauf geschult, während ihrer Bespitzelungen unsichtbar zu bleiben. Heinz und Erna wurde ganz offensichtlich nie eine derartige Ausbildung zuteil. Mit ausladenden Gesten lästern sie, bezichtigen, empören sich, verfolgen Menschen mit ihren Blicken und kommentieren lauthals sämtliche Beobachtungen. Dabei stossen sie sich mit mechanisch gleichmässigen Bewegungen Kalorienhaltiges vom Imbissstand oder Gratis-Bratwürste, die es bei Ladeneröffnungen gibt, in ihre gierigen Schlünde.
Wer in Einkaufszentren verweilt und schaut, betreibt veritable anthropologische Studien, denn hier kann der Homo sapiens in jeder erdenklichen Ausprägung erlebt werden. Glücklich, erfüllt und erschöpft wie Dian Fossey nach einem Tag mit ihren Gorillas im Nebel, reiten Heinz und Erna des Abends mit ihrem Subaru in den Sonnenuntergang, zurück in ihr Reiheneinfamilienhäuschen. Dort ärgern sie sich über den penetranten, neugierigen Nachbarn, der ungeniert seinen Blick über den Gartenzaun wirft. Sie wehren sich mit wüsten Worten gegen das Eindringen in ihre Privatsphäre. Er solle sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern und die Nachbarn in Frieden lassen, schliesslich sei dies hier ihr Vor- und kein zoologischer Garten.
16. Mai 2013 – 2: Added Value
Seit eine seltsame Laune der Natur aus uns Schweizern ein Volk von Schnäppchenjägern und Punktesammlern gemacht hat, kann man nirgendwo mehr etwas kaufen, ohne zusätzlich einen weiteren Artikel vermeintlich geschenkt zu erhalten. Damit meine ich nicht die zwei Scheiben Lyoner, welche die in Zeitlupe agierende, wurstfingrige Charcuterieverkäuferin auf die bereits abgewogenen hundertfünfzig Gramm legt. Ich spreche vom DVD-Player, ohne den man den neuen Fernseher nicht geliefert bekommt, von der mutmasslich unter LSD-Einfluss designten Polyesterkrawatte, die dem schlichten, weissen Baumwollhemd beiliegt, oder vom Extra-Pärchen Bratwürste aus der 3-für-2-Aktion, das im Müll landet, weil niemand das Risiko einer Bratwurstvergiftung eingehen will.
Immer wenn mir derartige Angebote ins Auge stechen, muss ich an den alten Schenker denken, dessen Person und Name ich an dieser Stelle frei erfinde. Er hatte sich nie mit den Preisen der heutigen Zeit abfinden können und deshalb den seiner Ansicht nach zu viel verlangten Betrag stets in Form von allerlei Naturalien mitgehen lassen. Den Kaffee crème rundete er grosszügig mit einem Kaffeelöffel oder einer Untertasse auf, das Mittagsmenü im Bahnhofbuffet mit einem Messer, einer Gabel oder einem Weinglas, und den bierseligen Abend liess er, der Nichtraucher, gerne mit einem Aschenbecher ausklingen. So kam im Laufe der Jahre jede Menge Nippes zusammen, den er nur hortete, ohne ihn je zu gebrauchen, und den seine Tochter nach Schenkers Tod auf dem Flohmarkt veräusserte. – Zugunsten der Alzheimerstiftung.
14. Februar 2013 – 1: «Gäu, du könnsch mi ned ..?»
Das närrische Treiben hat ein Ende, die Larven sind, ob sie gefielen oder nicht, gefallen, die blauen Jecken ausgenüchtert, die bunten Jacken ausgelüftet. Die feuchte Fröhlichkeit in den Gesichtern ist dem trockenen Alltagslätsch gewichen. Überall? Nicht ganz. Hartnäckig verstecken sich noch immer auf Plakaten an Kandelabern und waghalsigen Dachlattenkonstruktionen potenzielle Kantonsrätinnen und Kantonsräte hinter teils maskenhaft grotesken Gutelaunemienen, durch welche die Fasnachtshymne stumm weiterlallt und widerhallt: «Gäu, du könnsch mi ned ..?»
Noch spielt sie, die Musik zur Reise nach Jerusalem, auf der es mehr Teilnehmer als Sitze gibt. Den Kandidierenden steht der Moment der Entlarvung noch bevor, in dem sich herausstellt, ob sie edelmütige Gewinnerinnen sind oder überhebliche, gute Verlierer oder schlechte. Einmal vereidigt, folgt die Zeit der Bewährung, da es den Beweis dafür anzutreten gilt, dass Wahlparolen mehr sind als reine Push-up-BH-Floskeln, die viel versprechen ohne kaum etwas zu halten.
Während einige im neuen Parlament die Erfahrung machen werden, dass Pluralismus weniger aus mantraartig heruntergebeteten, markigen Slogans besteht, als vielmehr aus Zuhören, Verständnis, Diskussion und Konsens, formt sich hüben wie drüben bereits eine neue Stammtisch-Intelligenzija, die nicht nur aus unserem Skiteam das beste des Universums formen und unsere Fussballnati zur Weltmeisterschaft führen, sondern auch sämtliche Probleme der Welt lösen und es denen da oben schon zeigen würde, wenn man sie nur liesse.
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27. Dezember 2024 – 64: «Billig macht willig»
Gesucht, gefunden, angeklickt,
aus China in die Schweiz geschickt,
Shenzhen-Zürich über Nacht,
so schnell geht das per Flugzeugfracht.
Kerosin und CO2
sind manch Schweizer einerlei,
denn Geschenke müssen her,
gern gratis oder billiger.
Unterm Baum zur Weihnachtsfete
stapeln bunt sich die Pakete.
Mehr ist mehr und viel hilft viel
bei Plastik, E-Ramsch, Weihnachtsdeal.
Statt Besinnung, stille Nacht
startet die Geschenkeschlacht.
Einmal mehr zeigt sich recht schnell:
Liebe ist materiell.
Doch Vaters Pulli kratzt und juckt.
Es ist kein Qualitätsprodukt.
Die Drohne, Söhnchens grosser Traum,
zerschellt beim Jungfernflug am Baum.
Mutters neuer Parfümduft
verpestet kurzerhand die Luft.
Und Tochters Barbie, sieht sie schnell,
stammt aus Wuhan, nicht von Mattel.
Am nächsten Tag, bei Licht betrachtet,
ist alles, das man ausgeschlachtet,
nicht wie auf den Bildern «hot»,
sondern schlicht und einfach Schrott.
Wer hofft, es helfe die Beschwerde,
ist komplett auf der falschen Fährte.
Kein Kundendienst ist eingerichtet,
aus Kostengründen ward verzichtet.
Das Fazit ist profan, doch hart:
Es landen auf die schnelle Art
Drohne, Puppe, Duft und Tüll
im Sammelsack für Haushaltmüll.
Die Freude wich rasch dem Verdruss,
und man gelangte zum Entschluss,
weil heuer alles schiefgelaufen,
in Zukunft lokal einzukaufen.
Ich hoffe, das kommt nicht zu spät.
Das Wasser bis zum Halse steht
manch Laden der dafür geschätzt,
dass er auf Wert statt billig setzt.
Der Autor wünscht allen Leserinnen und Lesern eine ruhige Zeit «zwischen den Jahren» und nur das Beste fürs 2025.
10. Oktober 2024 – 63: «Das Backup»
Er ist kreidebleich, als ich ihm zufällig in der Stadt über den Weg laufe. Verzweiflung liegt in seinem Blick. Nein, sagt er, er sei weder krank noch arbeitslos. Die Ehe sei intakt, den Kindern gehe es gut. Trotzdem habe er heute sein halbes Leben verloren. Sein Smartphone sei tot, sämtliche Daten futsch. Tausende Fotos, die gesamten Chatverläufe, alles weg, auf ewig im digitalen Nirwana verschwunden. Es fühle sich an, als hätte man ihn seiner Erinnerungen beraubt. Er komme sich vor wie in einem dieser Filme, in denen Männer in schwarzen Anzügen Augenzeugen von Ufo-Sichtungen mit einem Blitzlichtstift das Gedächtnis löschen. «Da heisst es immer, das Internet vergisst nie, aber auf mich trifft das nicht zu. Alles verloren!», klagt er und trottet von dannen.
Bemerkenswert, wie sich unser Leben gewandelt hat. Gespräche sind Chats gewichen, Emotionen Emojis. Statt im Jetzt zu leben, Momente als flüchtig zu akzeptieren und sie aktiv zu geniessen, versuchen wir sie technisch zu konservieren, um sie später nachzuerleben. Bilder sind nicht mehr subjektive Eindrücke in unseren Köpfen, sondern eine schier unendliche Abfolge von Einsen und Nullen in Datenwolken. Dereinst werden wir unseren Enkelkindern wohl nicht mehr von früher erzählen, wie es unsere Ahnen taten, sondern sie durch unsere Bildergalerien swipen und scrollen lassen. Schade, denke ich, und tippe eine Notiz an mich selbst ins Handy: heute Abend Backup machen!
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31. Juli 2024 – 62: «Der Leserreporter»
Seit Herbert von einer Boulevardzeitung fünfzig Franken für das verwackelte Video eines brennenden Autos auf dem Pannenstreifen der A1 bekommen hatte, herrschte bei ihm pure Euphorie. «Video: Leserreporter» stand unter seinem Werk. Ab diesem Moment glaubte er, im Beruf des Leserreporters seine Bestimmung gefunden zu haben. Er sei viel mit dem Auto unterwegs, verfüge über ein brandneues Handy und ein sicheres Auge für die kleinen und grossen Unglücke des Alltags, verkündete er.
Wir versuchten, ihn von seinem Plan abzubringen. Die Verlage hätten rasende Reporter entlassen und bedienten ihre Kanäle jetzt mit billigen, austauschbaren Bildern billiger, austauschbarer Zeitgenossen. Wertschätzung: Fehlanzeige. Doch je mehr Gegenwind ihm ins Gesicht wehte, desto fester stand Herberts Entschluss: Er würde sich fortan Harry nennen und als Leserreporter sehr, sehr viel Geld machen. Bilder von ihm würden schon bald überall die Titelseiten dominieren. Vielleicht, schwärmte er mit dem Ton eines Visionärs, würden ihm die Medien sogar einen vierstündigen Livestream vom Gotthardstau abkaufen. So könnten auch Daheimgebliebene das kollektive Gefühl des Nichtvorwärtskommens hautnah erleben.
Bild von ihm habe ich nur noch eines in den Medien gesehen. Gepostet wurde es von der Kantonspolizei. Es zeigte Herberts demoliertes Auto im Strassengraben und trug die lakonische Beschreibung: «Selbstunfall – Gaffer hantiert am Mobiltelefon und verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug.»
Der Autor wünscht allen unfallfreie Sommerferien und ein Auge fürs Schöne.
29. Mai 2024 – 61: «Das N-Wort»
Es sind verstörende Parolen, die der Wind vom Nebentisch zu uns herüberträgt. «So etwas wie die, hat hier nichts verloren!», poltert das filigrane, drahtige Persönchen, dem man ein derartiges Organ nicht zutrauen würde. «Kaum sind sie da, vermehren sie sich ungehindert, breiten sich überall aus und verdrängen die Einheimischen. Ich sage nur: weg damit!» Dazu macht sie eine bestimmte, keinen Widerspruch duldende Handbewegung, wie ein Dirigent beim Schlussakkord. «Aber Yvonne, wir haben sie doch selbst als Bereicherung hergeholt», versucht die Blondierte vis-à-vis zu beschwichtigen. «Papperlapapp! Wenn diese Ausländer da sind, schlagen sie Wurzeln und machen alles kaputt, was wir uns aufgebaut haben. Die müssen weg! Dieses Land gehört den Unsrigen. Allein, wenn ich manche von ihnen rieche, kriege ich Atemnot. Gegen die müsste der Bundesrat endlich etwas unternehmen.» «Hat er ja», versucht die Wasserstoffblonde zu intervenieren, «einige dürfen gar nicht mehr …» «Pah!», fährt ihr die in Rage gekommene ins Wort, «andere Länder gehen da viel kompromissloser vor. Australien oder Neuseeland. Das habe ich mit eigenen Augen im Fernsehen gesehen. Die dulden sie nicht, diese elenden N…» «Sag jetzt bloss nicht das böse N-Wort!», japst die Bonde panisch. «Die Leute sehen schon her.» «Na und? Sie gehören ausgerottet, diese elenden … Neophyten!» Ich atme kurz auf. Dann bleibt mir das Lachen im Hals stecken.
Trotzdem, der Autor erfreut sich ob der Italianità, die die Tessinerpalme hinter der Kirschlorbeerhecke verbreitet … solange sie noch darf.
4. April 2024 – 60: «Aromata non grata»
Wenngleich man sich noch nicht einig ist darüber, wie die 13. AHV finanziert werden soll, arbeitet das Bundesamt für Gesundheit mit Hochdruck daran, möglichst viele von uns möglichst lange davon profitieren zu lassen. Anders kann ich mir die Kampagnen zur Verbesserung der Volksgesundheit bei gleichzeitiger Verteufelung von Genuss-, Sucht- und Lebensmitteln nicht erklären. Alkohol- und Nikotinwerbung bellen nur noch mit Maulkorb. Rauchen tötet, steht auf jedem Tabakerzeugnis, und es dauert wohl nicht mehr lange, bis uns Bilder von Hemingway und Bukowski auf Schnapsflaschen vor dem Trinken warnen. Auch Salz ist des Leibhaftigen und gehört zu den aromata non grata. So kauen wir seit geraumer Zeit zwar faderes Brot, dies dafür aber potenziell länger.
Das aktuelle rote Tuch für die um unsere Gesundheit Besorgten ist der Zucker. Entsprechend nehmen sie die Getränkeindustrie an die Kandare und fordern weniger Zucker in Softdrinks. Während das süsse Gift früher nur die Zähne perforierte, bringt es uns heute in Raten um. Welch qualvolle Passion die Gesundheitsapostel beim Betreten von Lebensmittelläden vor Ostern erleiden mussten, lässt sich nur erahnen. Der Anblick gigantischer Berge von Schokoladeosterhasen, -enten, -küken, -eiern und neuerdings sogar -einhörnern und -dinosauriern muss für sie die reinste Folter gewesen sein. Ein veritabler Zuckerschock! Aber ich bin sicher, dass ihnen auch im Kampf dagegen etwas Patentes einfallen wird … vielleicht bei einem Gläschen Weissen in der Zigarettenpause.
Der Autor wünscht allen ein langes, gesundes und genussvolles Leben.
29. Februar 2024 – 59: «Postcash»
«Grosi, erzähl mir ein bisschen von früher», bettelte die Kleine. «Ach, Kind», begann die Grossmutter wehmütig, «früher war alles anders. Da gab es noch richtiges Geld. Cash.» «Was war ‹Cash›?», wollte die Kleine ungeduldig wissen. «Das waren Münzen aus Metall und Papiernoten, die einen bestimmten Wert hatten. Immer am Sechsten des Monats brachte der Briefträger meiner Oma die Rente in Geldscheinen und Münzen persönlich nach Hause. Oma machte ihm dann einen Kaffee und tauschte mit ihm den neusten Klatsch aus dem Quartier aus. Dann trug sie die gesammelten Einzahlungsscheine fein säuberlich in ein gelbes Büchlein ein, ging damit zur Post und bezahlte ihre Rechnungen. Ja, so war das früher mit der Post und dem Cash. Später kamen die Karten, die Chips und der biometrische Scan.»
Die Kleine kicherte ob eines witzigen Wortes. «Grosi, was war ‹die Post›?» Bevor die alte Frau zum Antworten kam, ertönte eine blecherne Stimme aus dem Bauch des Mädchens: «Stromversorgung kritisch, Ladezone aufsuchen!» Leeren Blickes tappte der humanoide Gesellschafter zu einem markierten Punkt in der Ecke, wo seine Augen rot zu blinken begannen. Das Licht wurde gedimmt, das automatische Pflegebett drehte die Grossmutter in Ruheposition und verabreichte ihr ein Schlafmittel. Solange ihr Konto noch gedeckt war, würde sie sich nicht vor einer Überdosis fürchten müssen. Die Alte schlummerte sanft ein und träumte von Banknoten, von Briefträgern, von der Post und von ihrer einstigen Leibspeise: Rösti.
Der Autor leert seinen Briefkasten täglich … solange er noch kann.
28. Dezember 2023 – 58: «Highway to Hell»
Wenn das Sprichwort zutrifft, wonach der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so lege ich Ihnen an dieser Stelle dringend ans Herz, diesen Pfad nicht einzuschlagen. Zumindest nicht in den nächsten Wochen. Bald finden nämlich auf dem Highway to Hell massive Unterhaltsarbeiten statt, die ein Durchkommen verunmöglichen werden. Die zu erwartenden Staus dürften die sommerlichen Blechlawinen am Gotthard weit in den Schatten stellen.
Gemeinsam mit unzähligen anderen werde auch ich in liebevoller Kleinarbeit minutiös meine Vorsätze fürs neue Jahr wie ein Mosaik auf die steinige Strecke setzen. Obwohl einmal mehr sowohl im Geschäft als auch privat tausend kleine Dinge unbedingt vor Weihnachten erledigt sein mussten – erfahrungsgemäss geht ja an Silvester jeweils die Welt unter, und wir wollen dem Universum kein Chaos hinterlassen –, glaube ich an eine Zukunft und setze mir hehre Ziele. Waage und Kleiderschrank weisen mich gnadenlos darauf hin, dass ein paar Pfunde purzeln müssen, das Wetterknie schreit nach Bewegung, mein Kreislauf nach Kondition.
Zum Jahresanfang verbuchen Fitnesscenter Rekordumsätze, sind Diätbücher vergriffen, Joggingstrecken bevölkert, droht der Tabakindustrie und den Weinbauern das Aus. Aber schon bald wird wieder der Müssiggang mein Leben bestimmen. In Puncto Beharrlichkeit, Willenskraft und Ausdauer ist mir mein innerer Schweinehund meilenweit voraus. Ich sollte mir ihn zum Vorbild nehmen … vielleicht nächstes Jahr.
PS: Die Zeilen entstanden vor dem Ersten Ersten unter dem Einfluss von Glühwein und Weihnachtsgebäck.
12. Oktober 2023 – 57: «Baujahr»
Es ist Mittwochabend, kurz nach zehn. Die Nacht hat mit ihrem Dunkel die Strassen und Häuser, die Wiesen und Auen des Gäus längst sanft in ihre Arme geschlossen. In der finsteren Turnhalle zeugt einzig der Geruch abgestandenen Schweisses, der sich zärtlich mit dem Odeur des Bodenpflegemittels paart, vom Training des örtlichen TV. Die Matten und Geräte ruhen, feinsäuberlich verstaut, im Materialraum.
Vor dem Probelokal des Kirchenchors sagen sich Alte und Baritone gute Nacht, und die Tenöre schäkern harmlos mit den Sopranen, so, wie sie es schon vor Jahren taten, als sie noch jung waren und stimmlich potent. Man verabschiedet sich und geht gähnend nach Hause. Das Vereinsleben ruht für eine Woche.
Einzig im Säli des Löwen brennt noch Licht. Fast alle Gemeindepräsidentinnen und -enten der Gäuer Gemeinden sitzen in fröhlicher Runde einträchtig zusammen. In ihren schweissnassen Händen Quartettkarten. Doch auf denen steht weder «Höchstgeschwindigkeit» noch «Beschleunigung», geschweige denn «Anzahl Zylinder», «Baujahr» oder «Hubraum». Vielmehr übertrumpfen sich die Spielenden mit «Bauzeit», «Rotphase», «Stau» und «geringste Anzahl Bauarbeiter pro Woche».
Fröhlich ordern sie noch das eine oder andere Fläschchen, denn alle können sie mitspielen beim munteren Baustellenquartett, und sich ganz oben auf dem Treppchen wähnen. Niemand aus der Region hat in diesem oder in den kommenden Jahren schlechte Karten. Am Feierabend schwingt dennoch einer obenaus, und zwar Thomas Marbet, als er mit der absoluten Trumpfkarte «Postplatz» den Sieg verdienterweise nach Olten holt.
Der Autor schaffte unlängst im Feierabendverkehr 300 Meter in rekordverdächtigen 30 Minuten.
10. August 2023 – 56: «Darwin meets Rock»
Es ist immer tragisch, wenn jemand abrupt und viel zu früh aus dem Leben gerissen wird. Gerade so schlimm finde ich es jedoch, was aus dem guten, alten Rock’n’Roll und seinen Protagonisten von einst geworden ist. Wollten diese früher jung und schön sterben, tauschen sie heute den ausschweifenden Lebenswandel gegen Askese, Verveine-Tee und Bachblütentröpfchen, um dereinst als reiche Greise Gevatter Tod ins Auge zu schauen.
Die einen zieht es auf den Golfplatz, wo sie nicht länger an ihrem Bad-Boy-Image, sondern an ihrem Handicap arbeiten. Die anderen fliehen in den Wald, wo ihre Umarmungen statt Fans oder Whiskeyflaschen wahlweise Buchen, Eichen, Föhren oder anderweitigem Gehölz gelten. Dabei lassen sie sich willig für die Titelseiten der Yellow Press ablichten, besonders dann, wenn sie gerade ihre gesammelten Lebensweisheiten zur Freude ihres Kontos, der Bankberater und der designierten Erben zwischen zwei Buchdeckel geklemmt haben.
Und erwischt der Sensenmann einen von ihnen dennoch unprogrammmässig früh, ist er weder vollgedröhnt noch auf der Flucht vor übereifrigen Gesetzeshütern. Nein, der moderne Rockrentner klopft an Petrus’ Pforte, weil er brav seinen Töff auf dem Pannenstreifen parkiert hat und gerade dabei ist, das Regengwändli zu montieren, um einem inkontinenten Wölkchen, das über ihm aufgezogen ist, Tribut zu zollen, als ein vorbeifahrender Truck seinen Feuerstuhl in ein letales Katapult verwandelt. Darwin trifft auf Rock.
Dagegen scheint die Volksmusikbranche richtig wild, denn dort gibt es noch hemmungslose Exzesse, Sex and Drugs and Heimatmelodie …
Am 5. August wäre Steve Lee 60 geworden … hätte es am 5. Oktober 2010 in Nevada nicht geregnet.
20. April 2023 – 55: «So long Easy Rider»
Sie waren die Easy Rider der Dorfstrassen, die coolen, rüpelhaften Töfflibuben, die sich von einem frisierten, stinkenden Zweitakt-Triebwerk über den ländlichen Asphalt katapultieren liessen. Rotzfrech, uniformiert mit angefleckter Jeans und abgewetzter Lederjacke, brauchten sie bloss die cool zwischen den Lippen sitzende Zigarette aufglimmen zu lassen, um das Blut der für uns anderen unerreichbaren Klassenschätzeli in Wallung zu versetzen. Ich mied sie ängstlich, die Schulhofrebellen mit dem Testosteronspiegel von Zuchtmunis, doch insgeheim beneidete ich sie um ihre Selbstsicherheit … und um die Klassenschätzeli.
Was sich unserer Tage über die Trottoirs anschleicht und arglose Passanten erschreckt, ist lautlos. Salzsäulenartig stehen fahle Figuren mit ausdruckslosen Mienen wie festgeschraubt auf ihren E-Scooter und geben Strom, wo früher Gas war. Für sie ist nicht länger der Weg das Ziel, sondern das Ziel, und dort angekommen, werden die fahrbaren Unterlagen ignorant liegengelassen. Rücksichtslosigkeit scheint die einzige Konstante im Wandel der Zeit. Beim Vergleich von früher zu jetzt trifft die gute, alte Spass- auf die dumpfe, neue Bespass-mich-Gesellschaft.
Ich fragte mich oft, was aus den Anarchisten von damals geworden sei, bis ich neulich einen von ihnen traf. Geschäftsmann sei er, berichtete er. Dem Auftreten nach ein erfolgreicher. Was er so mache, wollte ich wissen, und wo seine Wut auf das System geblieben sei. Er grinste süffisant und meinte, heute lasse er durch seine Kunden Angst und Schrecken verbreiten; er verkaufe E-Scooter.
Der Autor wünscht allen Gleitenden gute Fahrt und allen Erschreckten gute Nerven.
9. März 2023 – 54: «Der Retter»
Nils liebt die Menschen. Und er liebt die Natur. Nils liebt alles, bloss nicht den Staat. Um Menschen und Natur vor den Menschen zu schützen, lebt Nils von staatlichen Zuwendungen und opfert seine Zeit vollumfänglich dem Aktivismus. An Kundgebungen schreit er lauter als ein Auktionator auf der Gant. Nils ist stolz auf das Erreichte. Die Raucher hat man erfolgreich stigmatisiert und weitestgehend aus Innenräumen verbannt. Aktuell nimmt er die Autos ins Visier. Sie stünden, meint der Pazifist, unmittelbar vor dem Blattschuss.
An der Ernährungsfront sieht sich Nils einer Phalanx mächtiger Feinde gegenüber: Alkohol, Fett, Salz und Zucker. Sie gehörten samt und sonders verboten, weil sie süchtig machten und krank, sagt er. Der Fleischkonsum sowieso; jener unter Androhung drakonischer Strafen. Um ein Haar wäre Nils zum Klimakleber geworden, doch fürchtet sich der Hyperallergiker zu sehr vor einer Sekundenleim-Intoleranz und dem Fakt, dass sich stundenlanges Festgeklebtsein negativ auf sein Herz-Kreislauf-System auswirken könnte. Schliesslich ist Sitzen das neue Rauchen.
Das sei alles gut gemeint, sagte ich ihm kürzlich, doch nicht so effizient wie die Massnahmen des französischen Staates. Seit dieser nämlich gratis Kondome an unter 26-Jährige verteile, bewahre er die Anwender sowohl vor fiesen Geschlechtskrankheiten wie auch vor ungewollten Schwangerschaften. Und dies wiederum erspare potenziellen Menschen dereinstige Nils’sche Rettungsaktionen. Darüber hinaus bliebe ihnen das erspart, was sogar den konsequentesten Asketen irgendwann dahinraffe – das Leben.
Der Autor wünscht allen ein gesundes und genussvolles Leben. Auch, und gerade dem Nils.
19. Januar 2023 – 53: «Trautes Heim»
Wir sollen doch vorbeikommen, haben sie gesagt, sie möchten uns ihr schmuckes Daheim zeigen. Fast ein Jahr schoben wir den Pflichtbesuch vor uns her; heute statten wir ihn endlich ab. Schon aus der Ferne sticht das Heimetli unserer Gastgeber aus der Reihenhaussiedlung heraus. Es strahlt regelrecht und trägt majestätisch die Insignien kleinbürgerlichen Wohlstands zur Schau: hingebungsvoll gepflegter Vorgarten mit englischem Rasen, grosszügiger Wintergarten, der aktuell als Orangerie für tropische Pflanzen dient, blitzblankes Garagentor, hinter dem ein neues Elektroauto am Strom nuckelt, Photovoltaikanlage auf dem Dach.
«Alles zu unterhalten, macht sehr viel Arbeit», verrät der Besitzer stolz. «Am 9. Januar habe ich bereits zum ersten Mal den Rasen gemäht. Vor acht Uhr.» Da werden sich die Nachbarn gefreut haben, denken wir.
Die Hausbesichtigung (wir werden geheissen, die Schuhe auszuziehen) lässt keinen Winkel aus und führt vom Keller bis unters Dach. Alles ist akribisch geputzt und penibel aufgeräumt. Der Hund passt farblich zur Einrichtung. Mit ihm unternähmen sie täglich zwei ausgedehnte Spaziergänge, das sei man dem Tier schuldig.
«Woher nehmt ihr bloss all die Zeit?», fragen wir uns und ihn. «Man könnte meinen, ihr seid mit Mitte dreissig schon in Pension.» «Viel besser», erklärt er, «seit zwei Jahren arbeiten wir im Homeoffice. Da stimmt die Work-Life-Balance.» «Ach, da schockiert es euch sicher, dass euer Brötchengeber vor der Pleite steht», wenden wir ehrlich besorgt ein. Er winkt ab. «Bei denen wundert mich gar nichts, das Management hat den Laden einfach nicht im Griff!»
Statt den Rasen zu mähen hat der Autor diese Kolumne verfasst.
3. November 2022 – 52: «Das Gute»
Gabi gehört der Gattung jener Berufsoptimisten an, deren Kommentare zu Hiobsbotschaften stets mit dem gleichen kategorischen Imperativ beginnen: «Du musst das Gute darin sehen!»
Hinterbliebenen, die ihre Lieben «nach langer, schwerer, mit grosser Geduld ertragener Krankheit» zu Grabe tragen, befiehlt sie, das Gute darin zu sehen, Zeit zum Abschiednehmen gehabt zu haben. Wer Angehörige an plötzlichem Herztod verliert, wird ultimativ geheissen, das Gute darin zu sehen, dass den Toten Leiden und Siechtum erspart blieben.
Was mich an ihr irritiert, ist weniger die Gabe, selbst die grässlichsten Fratzen des Schicksals in ein sanftes Licht zu rücken, das ihnen vermeintlich harmlose Tierbabygesichter verleiht. Vielmehr stört mich der schönfärberische, inquisitorische Kreuzzug, den sie im Namen einer gnadenreichen Positivität führt.
Jüngst kreuzten sich unsere Wege. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Ihr Gesicht war fahl, schlaff, ohne maskenhaftes Lächeln. Was geschehen sei, wollte ich wissen. «Luna!», schluchzte sie. Ihr Hund. Zwischen Wimmerlauten vernahm ich ein «tot». «Du musst das Gute darin sehen», hörte ich mich mit salbender Stimme sagen. «Jetzt brauchst du nicht mehr bei jedem Wetter zwei Mal täglich rauszugehen.» Wolken des Hasses verfinsterten ihren Blick. Sie türmte schiere Verachtung zu einem Scheiterhaufen, auf dem sie mich augenblicklich verbrannte. In mir loderten diabolische Flammen selbstgerechter Überlegenheit auf. Beinahe verführten sie mich zu glauben, just dies niedere Gefühl sei Gabis wahrer Beweggrund für ihren militanten Optimismus.
Der Autor findet, schwarz darf auch mal schwarz bleiben und muss nicht permanent weissgeredet werden.
18. August 2022 – 51: «Streitkultur»
Ich kannte einst eine Fabrikantenwitwe, die beschloss, ihren Lebensabend im Tessin zu verbringen. Darauf bereitete sie sich intensiv mit Italienischkursen vor, denn sie wollte am Leben dort teilhaben, und fand, es sei der Höflichkeit geschuldet, sich auf seine Gastgeber einzustellen.
Diese Überzeugung hätten die beiden Pärchen, die sich in unserer Lieblings-Osteria hoch über Brissago an den Nebentisch setzten, niemals geteilt. Für sie war Züridütsch ihre Form von Esperanto. «Die verstehen uns schon!», proletete das Alphamännchen, bevor es so lautstark nach dem «Fröläin!» rief, dass uns das Ausbleiben eines Echos von ennet dem See geradezu verblüffte. Er solle keinen Streit vom Zaun brechen, flüsterte seine Gattin. Das liess der Angezischte nicht auf sich sitzen. «Streit gehört zum Leben. Ich habe eine hervorragende Streitkultur!», brüstete er sich. «Was man von dir nicht behaupten kann!» Sie wandte ein, er schreie sie immer an, worauf ihm der Kragen platzte: «Ich muss dich nur dann anschreien, wenn du mir nicht zuhörst!» Mit einem kleinlauten: «Ich bin halt eine Waage, wie sie im Buche steht», versuchte das Betamännchen erfolglos den Disput zu bereichern.
Die gesamte Zeit erhielten wir zu famoser Tessiner Küche gratis Realsatire vom Feinsten serviert. Als es ans Zahlen ging, bot sich die Bilderbuch-Waage an, die Rechnung zu übernehmen. Alphas Frau griff ins Handtäschchen und fragte die Fleisch gewordene Streitkultur, ob er sein Portemonnaie brauche. Kopfschüttelnd deutete er auf Beta und meinte: «Lass ihn doch! Ich will mich nicht streiten. Manchmal muss der Klügere einfach nachgeben.»
Übrigens: Die Osteria heisst «Borei» und ist aufs Wärmste zu empfehlen.
12. Mai 2022 – 50: «Das Gezwitscher»
«Guten Tag, der Herr.»
«Morgen.»
«Womit kann ich dienen?»
«Sind Sie der Besitzer dieser Voliere?»
«Der Vogelfänger bin ich, ja.»
«Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, Ihr Geschäft stehe zum Verkauf.»
«Da hat dies Vögelein den Schnabel ganz schön voll genommen. Doch wenn Sie Ornithologe sind, kann ich Ihnen ein paar Piepmätze abtreten.»
«Ich will nicht ein paar, ich will den ganzen Schwarm.»
«Die machen aber jede Menge Lärm.»
«Bei mir darf jeder so viel Lärm machen, wie er kann – und ich will.»
«Nein, nein, wir sind nicht zu verkaufen.»
«Aber käuflich.»
«Wo denken Sie hin? Nicht für alles Geld der Welt!»
«Wie klingen fünfunddreissig Milliarden für Sie?»
«Da pfeif ich drauf!»
«Sie kriegen wohl den Kropf nicht voll genug. Vierzig?»
«Nun, ein bisschen mehr darf’s schon sein. Sagen wir vierundvierzig, weil Sie es sind.»
«Gut, einverstanden. Sagen Sie, kann ich mit Bruttoinlandprodukten zahlen?»
«Mit wie bitte was?»
«Mit dem Wert sämtlicher Waren und Dienstleistungen, die eine Volkswirtschaft innerhalb ihrer Landesgrenzen in einem Jahr produziert. Ich könnte Jordanien anbieten. Oder zwei Mal Zypern? Oder lieber vier Mal Malawi? Was sagen Sie?»
«Nur Cash ist fesch!»
«Na gut, voilà.»
«Danke. Dafür kriegen Sie noch einen Schokoriegel obendrauf, gratis und franko.»
«Ich esse keine Schokolade, Schokolade macht dumm.»
«Aber es ist ein Mars …»
«Her damit!»
Der Autor hat Mühe mit all den vielen Nullen.
17. März 2022 – 49: «Die Rossi»
Gemeinsam mit den letzten Schlucken aus der zweiten Flasche Burgunder spende ich Peter Trost. Auch nach fast zwei Jahren ist er noch immer nicht über die Trennung von Petra hinweg. «Hab sie in die Wüste geschickt», lügt er sich, mich und die leeren Flaschen an. «Soll sie doch an einem anderen rumnörgeln und ihn zum Haushaltsklaven machen!» Noch bevor ich ihn daran erinnern kann, dass es Petra war, die seine Koffer gepackt und vor ihre Tür gestellt hatte, schreckt er auf. «So, Feierabend», verkündet er, «ich muss noch aufräumen und staubsaugen.» «Ich dachte, dafür hättest du irgendeine Zugehfrau», sage ich. «Nicht irgendeine», weist er mich zurecht, «die Rossi. Die ist die Beste. Die putzt nicht bei jedem.» «Wo liegt dann das Problem?» «Schau dir doch mal die Sauerei an!», blafft er mich an. «Was soll die Rossi denn von mir denken? Nein, nein, mein Freund, wenn die kommt, muss alles piekfein sein.» «Von Petra hast du dir auch nichts sagen lassen», halte ich dagegen. Er schüttelt den Kopf. «Du kennst die Rossi nicht! Die ist da knallhart. Womöglich erzählt sie noch rum, ich können meinen Haushalt nicht in Schuss halten. Also, gute Nacht!», komplementiert er mich hinaus.
Ein paar Wochen später treffe ich ihn wieder. Er ist bestens gelaunt und auf meine Frage, was die düsteren Wolken über seinem Gemüt vertrieben habe, frohlockt er, er arbeite jetzt Teilzeit. So könne er am Tag, bevor die Rossi komme, seine Wohnung auf Vordermann bringen und die Wäsche machen. Die Rossi schwärme schon in den höchsten Tönen von ihm. Vor allem beim Folgetermin, und den habe sie bei Petra …
Der Autor versichert, von einer wahren Begebenheit inspiriert worden zu sein.
6. Januar 2022 – 48: «Die Monarchie»
Traditionsgemäss klingelte die Grossmutter am 6. Januar nach dem Mittagessen bei Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Ihr Korb war gefüllt mit allerlei Geschenken, darunter ihrem legendären, selbstgebackenen Dreikönigskuchen. «Gross bist du geworden», sagte sie, ebenfalls traditionsgemäss, als sich alle um den Küchentisch versammelt hatten, zur Enkelin, die kurz von ihrem Smartphone aufblickte, die Augen verdrehte und sofort wieder in die Welt ihrer digitalen Freunde abtauchte. «Familienschlauch!», tippte sie ins Display.
Alsdann schickte sich die Grossmutter an, der Weihnachtsgeschichte zweiter Teil zu erzählen: «Drei weise Könige aus dem Morgenland waren Sterndeuter und folgten dem Stern, der sie zur Krippe zu Bethlehem führte, wo das Christkind lag. Sie brachten Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke mit und huldigten dem König der Könige.»
«Könige, echt jetzt, Grosi?», murrte die Enkelin, die doch gerade erst noch Windeln getragen hatte, schnippisch. «Du meinst autokratische Diktatoren, die ihr Volk unterjochen und ausbeuten, Monarchen, die ihre Alleinherrschaft über Generationen weitervererben, aber natürlich nur an ihre Söhne, weil Töchter in diesem patriarchischen System nichts wert sind. Und sie kommen mit wertvollen Geschenken. Wozu? Um diesen König zu korrumpieren?»
Die Augen der Grossmutter füllten sich mit Tränen. «Gross bist du geworden …», wiederholte sie wehmütig, brach ein Stück vom Dreikönigskuchen ab und biss beherzt zu. Was konnte ihr ein kleines Stück Plastik in Königsform jetzt noch anhaben, wo sie sich doch die Zähne längst an ihrer Enkelin ausgebissen hatte …
Der Autor wünscht e Guete beim Kuchen, allen Monarchen für einen Tag eine erfolgreiche Regentschaft und allen Lesern ein frohes neues Jahr.
4. November 2021 – 47: «Null 007»
Nach zwei Jahren Kinoabstinenz lockte er uns wieder einmal ins Lichtspielhaus: Er, der Geheimagent im Dienste ihrer Majestät, der Retter der Welt, der Mann mit der Lizenz zum Töten, der legendäre James Bond. In den nunmehr 60 Jahren, in denen die Abenteuer des chauvinistischen Machos auf Zelluloid gebannt werden, besiegte er stets in letzter Sekunde das Böse, blickte dem Tod mit einem flotten Spruch auf den Lippen verachtend ins Auge und ging kaum je allein zu Bett.
Und jetzt das: Ein Film, so farblos wie ein ausgewaschenes Band-Shirt aus den Achtzigern, so zäh wie eine als Schnitzel verkleidete Schuhsohle, so prickelnd wie ein Glas Wasser aus einer schlammigen Pfütze, so witzig wie eine mathematische Formel. Das Drehbuch, als hätte es Rosamunde Pilcher nach Motiven von Ian Fleming getippt, inszeniert von einem woken Zeitgeist.
163 nicht enden wollende Minuten lang musste ich mitansehen, wie der politisch inkorrekte Schurken- und Schürzenjäger von einst zu einem Etwas mutierte, das weder Relikt aus längst vergangener Zeit noch angesagter, softer, hipper Frauenversteher ist. Vor meinen Augen vollzog sich die Metamorphose des weltgewandten Geheimagenten zum provinziellen Trickdieb, der mir mit seinen effekthascherischen Taschenspielertricks drei Stunden meiner Lebenszeit klaute.
Dennoch, Bond, James Bond hat mir auch etwas Wertvolles geschenkt: Die Vorfreude auf einen Ausgeh-Abend, das gute Gefühl, wieder einmal im Kino zu sitzen, Bilder auf der ganz grossen Leinwand und ein Motiv, mich in dieser Feder köstlich über eine Nebensächlichkeit ärgern zu dürfen. Na dann, danke, 007!
Von Filmen und Wein versteht der Federschreiber nichts … bloss dass er manche mag und andere nicht.
19. August 2021 – 46: «Der Kardinalfehler»
Die mondlose Nacht hatte den Vatikan in eine schwarze Soutane gehüllt. Nur im Arbeitszimmer eines verzweifelten Kardinals brannte noch Licht. Sein Auftrag: das meistverkaufte Buch aller Zeiten in eine moderne, gendergerechte Sprache übertragen. Die Arbeit bereitete ihm Kopfzerbrechen und viele schlaflose Nächte wie diese, in der er über den zehn Geboten brütete.
«Du sollst Vater und Mutter ehren» schliesst Alleinerziehende und Gleichgeschlechtliche aus, sagte er sich, und bekreuzigte sich beim zweiten Gedanken hastig. Den Vater vor die Mutter zu stellen, dürfte als diskriminierend ausgelegt werden, und binäre Geschlechtsbegriffe wie «Vater» und «Mutter» hatten sowieso ausgedient. «Das Elter» ersetzte sie gendergerecht. Also schrieb er: «Du sollst das Elter und, falls vorhanden, das Elter ehren.» Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ein spielendes Kind von der Schaukel fällt, zu weinen beginnt, in die offenen Arme seiner Mutter rennt und schluchzend ruft: «Elter, Elter, mein Knie tut so weh!» Kopfschüttelnd zerknüllte er den Zettel.
Treue dürfte ihm leichter fallen als Elternschaft, dachte er. «Du sollst nicht ehebrechen.» Er grübelte. Wenn dem Gebot tatsächlich Folge geleistet würde, wäre eine maximal treue Welt mit möglichst vielen Ehepaaren zu erreichen. Folglich dürfte niemandem die Ehe verwehrt werden. Erneut bekreuzigte er sich. Ihm war, als wäre ihm eine Frucht vom Baum der Erkenntnis geschenkt worden, die ihn einsehen liess, dass der Gedanke, die Bibel zu gendern, ein Kardinalfehler war und die reine Form den wahren Inhalt niemals würde ersetzen können.
Der Autor hofft, dass in der Schweiz am 26.9. viel mehr Menschen das Recht auf eheliche Treue zugestanden wird …
12. Mai 2021 – 45: «Wer zuletzt (nicht) lacht
Einst war Luigi der begnadetste Witzeerzähler des Universums. Seine Pointen trafen wie die Geschosse eines Scharfschützen. Sein Timing glich jenem eines Meisterdirigenten. Sein Repertoire war breiter als die Gestade des Meeres. Statt mit «Hallo» begrüsste er einen mit: «Kennst du den schon?» Seit aber politische Korrektheit zur moralischen Währung unserer Gesellschaft erkoren wurde, ist Luigi nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Gebrochener, ein eingefallenes, gebücktes Männlein.
Brennt ihm die Geschichte vom Rabbi und dem Pfarrer auf der Zunge, fürchtet er sich, ein Antisemit oder Nazi geschimpft zu werden. Beim Scherz vom afrikanischen Reisebus an der österreichischen Grenze graut ihm vor Rassismusvorwürfen. Die Anekdote vom Mann, der zum Arzt kommt, vermeidet er tunlichst, weil er Menschen nicht mehr in ein veraltetes, binäres Geschlechterbild zwängen will. Und sämtliche Blondinenwitze ruhen seit #metoo sanft auf dem Friedhof seiner Erinnerungen.
Verzweifelt suchte er sich psychologische Hilfe. In der Abgeschiedenheit des Sprechzimmers gibt er nun wöchentlich jene Kalauer zum Besten, die ihn in seiner Blütezeit zur gefeierten Attraktion jeder Party und später zur Persona non grata machten. Der Therapeut nickt jeweils verständnisvoll und macht sich Notizen. Gestern, als er beim Gehen die Tür hinter sich ins Schloss zog, glaubte Luigi zu vernehmen, wie Freuds Jünger in schallendes Gelächter ausbrach. Ein leiser Anflug von Freude skizzierte ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht. Zu Hause küsste er zärtlich seine Frau und meinte, die Therapie tue ihm richtig wohl.
Der Autor überlegt sich, Luigi künftig zur Therapiestunde zu begleiten. Das wäre zwar politisch inkorrekt, aber wenigstens auf Krankenschein.
18. März 2021 – 44: «Infaulenzer»
Angestrengt starrte der Berufsberater auf den Bewertungsbogen. Die unleserliche Schrift verleitete ihn beinahe zu einem humorigen «vielleicht Arzt». Ein Blick auf die Zeugnisnoten der unablässig an ihrem Handy manipulierenden Klientin liess jedoch jede Hoffnung, die Bemerkung könne verstanden werden, ersterben. Sein Gegenüber formte ihre Lippen, die so aufgeblasen waren, dass sie der Titanic genügend Auftrieb verliehen hätten, um sie am Sinken zu hindern, zu einem Kussmund, hielt die groteske Mimik in einem Selfie fest und veröffentlichte dieses alsdann auf einer Internet-Plattform. Digitale Herzchen und der Klang feiner Glöckchen modellierten ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht, dessen Vorhandensein unter der massiven Schminkschicht, die jedem wärmedämmenden Aussenputz alle Ehre machte, nur zu erahnen war.
«Wie stellen Sie sich denn Ihr Leben vor?», fragte der Fachmann mit einer zu neunzig Prozent mit Resignation gesättigten Stimme. «Ich will Fame und Fans und Geld und Luxus und Partys ohne Ende!» Man konnte der jungen Frau nicht vorhalten, sie wisse nicht, was sie wolle. Nach einer kurzen Weile blickte der Mann mit traurigen Augen über seine Nickelbrille und rekapitulierte: «Sie sind arbeitsscheu, lernfaul, talentlos, narzisstisch, oberflächlich, beratungsresistent, Sie strotzen vor Selbstüberschätzung und glauben, es müsse Ihnen alles zufallen. Da gibt es nur eines: werden Sie Infaulenzer.» «Influencer heisst das!», erschallte harsch das Echo. Er schüttelte den Kopf. «Da bin ich nicht so sicher …»
Der Autor schafft es (noch) nicht, jeder modernen Berufsgattung mit dem gleichen Respekt zu begegnen.
4. Februar 2021 – 43: «Akzeptieren»
An einem schönen Ferientage,
ich war dabei, mich faul zu recken,
erschallte die Sonnieranlage
und liess mich aus dem Bett aufschrecken.
Ein junger Mann stand vor der Tür,
in T-Shirt, Jeans und Adiletten.
Blond gelockt machte er mir
Eindruck einen ganz adretten.
Ich kannte ihn irgendwoher
und fragte, was er hier jetzt mache:
«Sprich, Freund, was ist dein Begehr?»
Alsdann kam er direkt zur Sache.
«Den Erstgebornen, wenn’s beliebt.
Ich nehm ihn auf der Stelle mit.
Falls es noch einen zweiten gibt,
bring ihn mir auch, dann sind wir quitt.»
Wütend brach’s aus mir heraus:
«In rumpelstilzchenscher Manier
spricht keiner hier in diesem Haus.
Solch Unart, die verbitt ich mir!
Mein Herz glich tausend Schlangengruben,
könnt jeder, der dahergelaufen,
verfügen über meine Buben,
versuchen, sie mir abzukaufen.»
«Sie wurden an mich abgetreten.
Alles ist protokolliert!
In AGBs wird drum gebeten.
Du hast mit Mausklick akzeptiert!
Ja glaubst du denn, es koste nicht,
meine Apps bequem zu nutzen?
Du stehst zutiefst in meiner Pflicht!
Da brauchst du gar nicht so zu stutzen.»
Im Schlepptau mit den beiden Söhnen
trollt er sich. Sie folgen brav.
Dann weckt zum Glück mein lautes Stöhnen
mich endlich aus dem tiefen Schlaf.
Herrn Zuckerbergs Spontanbesuch
war ein Albtraum nur gewesen.
Doch trotzdem werde, statt ein Buch,
ich öfter Kleingedrucktes lesen.
Der Autor kann sich auf neue AGBs oft keinen Reim machen, klickt aber, in Ermangelung männlicher Nachkommen, dennoch stets willfährig auf «akzeptieren».
17. Dezember 2020 – 42: Mängelrüge
Sehr geehrter Kundendienst
Vor 352 Tagen sah ich mich in Ermangelung echter Alternativen dazu genötigt, das Jahr 2020 von einem Monopolisten zu erwerben. Schon kurz nach Inbetriebnahme der ersten Wochen musste ich grobe Mängel feststellen. Deshalb beschwere ich mich vor Ablauf der Garantiezeit in aller Form über dieses schadhafte Produkt. Die vergangenen 51 Wochen weisen in weiten Teilen eindeutige Konstruktionsfehler auf.
Mit meiner Unzufriedenheit bin ich längst nicht allein. Weltweit wurde dieselbe überteuerte, qualitativ minderwertige Ware ausgeliefert. Schade – von einem Anbieter, der sich mit über 2000 Jahren Erfahrung brüstet, dürfte man mehr erwarten. Eigentlich ist diese Schlamperei ein Fall für den Kassensturz.
2020 führte bei vielen Menschen zu intellektueller Dysfunktion oder Vereinsamung. So öffnete meine Nachbarin jüngst sogar den Zeugen Jehovas die Tür und bat sie herein, bloss damit sie sich wieder einmal mit jemandem unterhalten konnte. Und ihr Gatte belegt aktuell einen Englisch-Fernkurs, um künftig in der Lage zu sein, mit lästigen Telefonverkäufern Konversation auf einfachem Niveau zu betreiben.
Mein Fazit liegt auf der Hand: 2020 ist eindeutig ein Montagsjahr. Mit Berufung auf Artikel 210, Absatz 1, des Obligationenrechts fordere ich Sie zur Rücknahme des unbrauchbaren Ramsches per 31. Dezember auf und erwarte die kostenlose Zustellung eines fabrikneuen, fehlerfreien Jahres per 1. Januar 2021.
Danke für Ihre Kenntnisnahme und beste Grüsse.
Der Autor wünscht allen Leserinnen und Lesern schon jetzt ein tadelloses neues Jahr.
8. Oktober 2020 – 41: Der Exen-Experte
In meiner Jugend war die Expertenwelt noch in Ordnung: Bruno Stanek holte uns die Sterne vom Himmel und Sepp Moser die Flieger. 16-Millimeter-Filmer Hans A. Traber war der Echsen- und Playboy Gunter Sachs der Exen-Experte. Für alles andere gab es Medienschaffende mit breitem Allgemein- und vertieftem Fachwissen.
Diese mediale Klarheit wurde fundamental getrübt. Seit vielerorts Qualitätsjournalismus nimmermehr von Qualitätsjournalisten mit Weitblick, sondern von Volontären mit Fokus auf Klickzahlen erbracht wird, stehen, in Ermangelung eigener Meinungen, plötzlich Experten hoch im Kurs. Zuweilen kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass, nebst ausgewiesenen Köpfen, auch ziemlich skurrile in die Medien gezerrt werden. Den Taschendieb macht man da schnell einmal zum Experten für Besitz-, den Raser zum Experten für Verkehrsrecht, den Einbrecher zum Sicherheitsexperten, den Quartieralkoholiker zum Experten für Kulinarik. Der Baggerfahrer taugt allemal als Experte für Ausgrabungen und die Hausfrau avanciert zur Expertin für Familienmanagement.
Tja, und da die Gladiatoren der medialen Neuzeit nun schon mal bereitstehen, lässt man sie zum Ergötzen von uns Medienkonsumierenden auch gerne gegeneinander antreten. Die Plattformen liefern die passende Arena, wir das blutrünstige Publikum. Plötzlich ist es wie im alten Rom: Brot und Spiele. Und der Kaiser, der seinen Daumen nach oben oder nach unten richtet, wird flugs ersetzt. Durch uns. Denn zum Glück gibt es Social Media. Cool! I like!
PS : Ich setze vertrauensvoll auf die Expertinnen für Familienmanagement. Ihr seid die Besten!
23. Juli 2020 – 40: Danke!
Während rings um uns die «neue Normalität» beschworen wird, gibt es Mitmenschen, die die Grenzen ihrer Möglichkeiten ausloten, um uns bei Wochenendeinkäufen das Gefühl von 2019 zu vermitteln. Vor diesen selbstlosen Helden der Frei- und Samstage ziehe ich heute meinen Hut.
Danke, du rüstiges Pärchen im beige-grauen Partnerlook, dass du am Ende des Fahrstegs wie Treibgut am Strand angeschwemmt stehenbleibst, damit unausweichlich eine Auffahrkollision von Einkaufswagen provozierst und uns affektiert anblaffst, wir sollen gefälligst nicht so drängeln.
Danke, du tölpelhafter Zweimeterhüne, der du dich breitschultrig unter Einsatz deiner Körpermasse an der Gemüsewaage vordrängst, weil du vermutlich nicht in der Lage bist, dir die Nummer der Bananen länger als einige Millisekunden zu merken. (Kleiner Tipp: Es ist immer die Eins!)
Danke, ihr naturbelassenen Wochenendväter, die ihr die schreiende Frucht eurer Lenden in Plastikautos quetscht und damit Gänge verkeilt, während ihr euch mit dem leicht konsternierten weiblichen Fachpersonal von Dutt zu Dutt über laktosefreie Erzeugnisse unterhaltet.
Und danke, du lieber Bettler mit dem gekünstelt unterwürfigen Blick und der Handorgel, die einen noch schäbigeren Eindruck macht als du, dass du noch immer mit chirurgischer Präzision konsequent an jedem einzelnen Ton vorbeischrammst und das arme, hilflose «La Paloma» weiterhin mit der bestialischen Gnadenlosigkeit eines herzlosen Folterknechts malträtierst.
Danke euch allen! Wie habe ich es vermisst, mich über euch ärgern zu können …
28. Mai 2020 – 39: Masken auf!
Während sich die Lage zu entspannen beginnt und für Partygänger nicht schnell genug wieder normalisieren kann, plädiere ich an dieser Stelle vehement für eine Maskenpflicht. Dabei spielt die Hygiene eine untergeordnete Rolle. Vielmehr sehe ich triftigere Gründe:
#5: Masken, ob legal erworben, fantasievoll gebastelt oder wo zur Verfügung gestellt stapelweise entwendet, stellen Gesichtserkennungsprogramme vor ungeahnte Herausforderungen. Ist es nicht reizvoll, Big Brother ein Schnippchen zu schlagen?
#4: Wenn die holde Angebetete fürs Ausgeh-Make-up statt des gesamten Gesichts nur noch die Augenpartie einer michelangeloschen Freskomalerei zu unterziehen hat, startet für den wackeren Junker der gemeinsame Abend mit geringerer Verspätung.
#3: Mundgeruch wird vor einer kollektiven olfaktorischen Beeinträchtigung zum Verursacherproblem. Dies führt zu einer Ankurbelung des Verkaufs von Mundwässerchen, welcher die Einbrüche bei Lippenstift und Wangenrouge (#4) wettzumachen vermag.
#2: Masken sind nicht nur modisch, sondern auch multifunktional. Sie lassen sich abwechselnd als Hygieneschutz, Bartstütze oder Kinnarretierer verwenden. Die Harmonie von Foulard, bzw. Krawatte/Einstecktuch, und Hygienemaske wird zum schicken Muss.
#1: Selbst ein neutrales, blaues Zelluloseflies wirkt im Allgemeinen bei Zufallsbegegnungen auf das Gegenüber wesentlich attraktiver als der abgelöscht ausdruckslose Gesichtsausdruck eines Grossteils unserer Zeitgenossen.
Als bekennender Schönredner weiss der Autor auch dieser Situation etwas Positives abzuringen.
16. April 2020 – 38: Und immer wieder die Zeit
Die Situation entbehrt nicht einer gewissen loriesken Note. Der Nachmittag ist angebrochen. Ich fläze mich aufs Sofa, meine Gedanken beim Abendessen und dem Wein, den ich der Grillade als Begleitung aus dem Keller holen werde. Ich tue das, was ich am besten kann: nichts. Sie allerdings ist umtriebig, wuselt in der Wohnung umher, huscht in den Garten, putzt, dekoriert, pflanzt. Sie nennt es Beschäftigung, ich Aktionismus.
«Du könntest mal wieder ein Buch lesen. Jetzt hast du ja Zeit», schlägt sie vor. «Geht nicht. Hab die Brille im Geschäft vergessen.» «Oder Fotos sortieren und ein Album bestellen. Jetzt, wo du Zeit hast.» «Dazu ist das Wetter viel zu schön.» «Dann reparier doch den Gartenzaun.» «Dafür mangelt es an Material und der Baumarkt ist zu.» «Warum mähst du nicht den Rasen?» «Weil du gesagt hast, die Wiesenblumen gefielen dir so gut. Ich warte, bis sie verblüht sind.» «Es gibt so vieles, was du stets auf die lange Bank geschoben hast und machen wolltest, wenn du einmal Zeit hättest. Jetzt hast du sie. Also, mach doch was!»
In meinem Geist verschmelzen die Geräusche ihrer Geschäftigkeit und guten Ratschläge zu einem Meeresrauschen, das mich mit seinen sanften Wogen in den Schlaf wiegt. Ich erwache um fünf Uhr. Zu spät, um etwas Neues anzufangen! Wir grillieren, essen, trinken, plaudern. «Morgen könntest du die Hecke schneiden. Du hast ja alle Zeit der Welt», versucht sie mich zu motivieren. Ich nippe am Glas und freue mich insgeheim auf jene Zeit, in der ich wieder keine Zeit mehr haben werde.
Geben Sie auf sich Acht und bleiben Sie gesund!
13. Februar 2020 – 37: 2019-nCoV
«Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur»*, las ich dieser Tage. Dabei musste ich unweigerlich an Herrn Grantler denken. Wie kaum ein Zweiter vermag er den Aggregatzustand seiner Angst blitzschnell in Ablehnung umzuwandeln.
Ein Beispiel dafür ist «der Deutsche». Dem Teutonen gehe es einzig um Landgewinn, behauptet er. Beste Beweise dafür lieferten der Krieg und die bereits morgens um sechs mit Badetüchern reservierten Strandliegen auf Mallorca. Er pflegt auch eine Aversion gegen «den Russen», weil kommunistisch und viel zu dicke, schwermütige Bücher in fremden Zeichen schreibend. Gastarbeiter- und flüchtlingswellenweise destilliert er die Furcht vor dem Unbekannten in Abneigung. Diffusen Feindbildern verleiht er mit dem Begriff «der Terrorist» eine klare Kontur.
Aktuell schiebt Grantler Panik vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Ein Schuldiger dafür ist schnell gefunden: «der Chinese». War dieser bis vor kurzem noch fleissig, brav und lächelnd, ist er quasi über Nacht zur gelben Gefahr mutiert. Das fände ich lächerlich, sage ich zu Herrn Wu, als wir in der Stadt in seinem Chinarestaurant sitzen. Doch dieser winkt ab. Das Lokal bleibe derzeit fast leer. Obwohl er seine Lebensmittel regional einkaufe und zum letzten Mal vor sieben Jahren nach China gereist sei, machten die meisten einen weiten Bogen um den schwülstigen, von zwei Löwen gesäumten Eingang.
Nachdem wir die 23, die 52 und die 87 genüsslich verzehrt haben, offeriert uns Herr Wu einen Pflaumenwein, mit dem wir im Gedenken an die jährlich rund fünfhunderttausend Opfer der «gewöhnlichen» Grippe still anstossen.
* Das Zitat stammt von Volker Pispers. Zeit zum Schmökern fand der Autor während er seine Influenza auskurierte.
19. Dezember 2019 – 36: Christa
Während Frau Flüeli liebevoll die selbstgenähten Kostüme bügelt, sitzt ihr Mann konzentriert am Eichentisch. Mit klobigen Fingern beigt er Zweifränkler und Fünfliber zu Türmchen. Banknoten streicht er feinsäuberlich glatt und legt Gleiche auf Gleiche. Als er das Resultat seiner Zählung in ein abgegriffenes Kassabüchlein einträgt, runzelt er die Stirn. «Weniger als letztes Jahr», seufzt er. «Samichlausen lohnt sich nicht mehr.» Sie blickt wehmütig auf, leckt kurz ihren linken Zeigefinger an und tippt damit auf die Bügeleisensohle. Ein leises Zischen bricht die Stille.
«Die Welt gerät aus den Fugen», wimmert Flüeli. «Ein männlicher Samichlaus sei sexistisch, sagen sie. Und du als schwarz angemalter Schmutzli seist rassistisch, sagen sie. Aber der Heilige Nikolaus war doch ein Mann, sagt die Legende.» Frau Flüeli atmet schwer. «Was kommt wohl als nächstes?», fragt ihr Gatte verzweifelt. «Vielleicht ist es auch sexistisch, wenn das Christkind ein Bube ist. Muss dann Maria ein Mädchen gebären und es Christa nennen? Wegen der Quote!?»
Frau Flüelis Blick klart auf, als sie den Faden weiterspinnt: «Aber spätestens, wenn sie am Karfreitag eine junge, einzig mit Lendenschurz bekleidete Frau auspeitschen und ans Kreuz nageln, hört der Spuk auf. Das wäre dann wohl selbst für die zu viel der Gleichstellung.» Erleichtert geht Herr Flüeli zur Bank und zahlt das Geld ein, derweil Frau Flüeli die Kostüme im Mottenschrank versorgt und sich anschickt, den Weihnachtsbaum zu schmücken.
Der Autor wünscht allen Leserinnen, Lesern und Lesenden frohe Festtage.
10. Oktober 2019 – 35: Der Gutmensch
Wie wild wetterte Wahlhelfer Willy wütend wüste Worte durch die Wirtschaft. Was wohl aus der Welt würde, wenn wir willfährigen Weicheier wider besseren Wissens weinerliche Warmduscher wählen würden, wollte er wissen. Während seiner Tirade schwoll der Pegel meines Schimpfwortschatzes synchron mit Willys Blutdruck an. Kurz bevor sein hochroter Kopf explodierte, feuerte er unter Mobilisierung aller verbleibenden Kräfte ein letztes, vernichtendes Geschoss ab: «Diese ... Gutmenschen!»
Der Rückstoss liess Willys geschwächten Körper rückwärts in die dekorative Bücherwand torkeln. Das Regal erzitterte unter der Wucht des Aufpralls. Ein kleines, in Leinen gebundenes Buch mit vergilbten Seiten löste sich aus der Reihe und fiel ihm vor die Füsse. «Goethes Gedichte in zeitlicher Folge» blieb, auf Seite 270 aufgeschlagen, vor ihm liegen. Ich hob es auf und las: «Das Göttliche. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.»
Es schien, als frage uns der Dichterfürst kopfschüttelnd, was aus unserer Gesellschaft geworden sei, wenn die hehren Ideale von einst heute als üble Beleidigungen dienten. Willy winkte ab. Goethe habe hier gar nichts zu befinden. Der sei nämlich nicht nur tot, sondern auch Deutscher, und die könnten ihm ohnehin gestohlen bleiben.
Sein Handy klingelte. Aus dem Lautsprecher drang der resolute, preussische Ton seiner Hilde, die ihn ultimativ aufforderte, den Nachhauseweg anzutreten, was Willy mit dem Gehorsam eines wackeren Soldaten umgehend tat.
Der Autor machte daraufhin von seinem Privileg Gebrauch und ging wählen.
25. Juli 2019 – 34: Memme im Mond
Berichte über die erste Mondlandung vor 50 Jahren fördern verblasst geglaubte Bilder aus den Tiefen meiner Kindheitserinnerungen an die Oberfläche und spülen sie an die Gestade meines Bewusstseins. Sie waren die Helden meiner Jugend, die waghalsigen Mannen, die sich mit der Wucht von 84 Millionen Pferdestärken ins All katapultieren liessen, um auf dem Erdtrabanten ihre Fussstapfen zu hinterlassen. Und in genau jene wollte ich dereinst treten. Dafür trainierte ich, indem ich kurzerhand eine Obstharasse zur Raumkapsel erklärte und pathetische Sätze murmelte, wenn meine Stiefel des Winters Abdrücke in den jungfräulichen Schnee stanzten.
Doch schnell wurde der lodernde Wunsch von den Fakten der Realität erstickt: Ich war kurzsichtig, unsportlich und ein Feigling mit Flugangst. Nicht einmal 84 Millionen PS hätten mich auf eine Achterbahn gebracht; mir wurde schon auf dem Kinderkarussell schlecht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bis vor kurzem wurde ich noch eine Memme geschimpft, wenn ich erzählte, unser Urlaubsradius sei eingeschränkt, weil ich nicht flöge. Das hat sich abrupt geändert. Plötzlich nennt man mich deswegen umweltbewusst und gibt mir das gute Gefühl, durch meine Flugabstinenz den Planeten zu retten. Danke, Greta!
Insgeheim ist aber die Sehnsucht nach dem All geblieben. Die Vorstellung jedoch, welche Kosten es zur Folge hätte, wenn ich durch eine CO2-Kompensation ein ökologisches Feigenblatt für meine Mondfahrt erwerben möchte, lässt mich stets rasant auf dem Boden der Realität aufschlagen.
Der Autor fragt sich, ob Astro-, Kosmo- und Taikonauten geregelte All-Tage haben …
29. Mai 2019 – 33: Stummer Protest
«14. Juni» steht auf dem Ferienzettel, den Frau Brändli en passant ihrem Vorgesetzten hinstreckt. Dieser wirft fahrig einen Blick in seine Agenda, legt die Stirn in Falten und schüttelt den Kopf: «Da hat der Betschard schon frei. Verschieben Sie’s!» «Es wäre mir aber wichtig», insistiert die Angestellte etwas verschämt. «Ich möchte …», sie ringt nach Luft und Mut, «… am Frauenstreiktag teilnehmen.»
Dem Chef schwappt ein kurzer Lacher aus dem Mund. «Betschards Frau auch, diese Emanze! Und die Tante von ihrer Kita ebenfalls. Drum muss der arme Kerl auf den Jungen aufpassen. Bleibt mal wieder alles an ihm hängen.» «Aber es geht um Gleichstellung und Gerechtigkeit. Um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das ist hier ja noch nicht der Fall. Obwohl ich besser qualifiziert bin als der Betschard, verdiene ich weniger.»
Jetzt platzt dem Vorgesetzten die Hutschnur: «Papperlapapp! Muss ich Ihnen wirklich die Welt erklären? Ihr Mann bringt doch das Geld nach Hause. Sie sind bloss Zweitverdienerin. Während Arbeit für Sie ein Zeitvertreib ist, muss der Betschard eine Familie ernähren. Soll ich ihn etwa verhungern lassen?»
Kleinlaut zerknüllt Frau Brändli den Ferienzettel und macht sich verdriesslichen Gesichts zurück an ihre Arbeit. Langsam hellt ihre Miene wieder auf, als sie sich vorstellt, dass sie durch ihren «stummen Protest» nicht nur den Betrieb ihrer Abteilung aufrecht erhält, sondern auch gleich zwei Geschlechtsgenossinnen die Gelegenheit gibt, für ihre Rechte auf die Strasse zu gehen: Betschards Emanze und der Kita-Tante.
Der Autor wünscht der Gesellschaft, dass diese fiktive Geschichte bald keinen Funken Wahrheit mehr hat.
18. April 2019 – 32: Der Rabattkönig
Was braven Kirchgängern der Sonntag, ist ihm der Dienstagabend. Wenn das Konsumentenschutz-Magazin über die Mattscheibe flimmert, hängt er andächtig an des Moderators Lippen. Dann ist dieser für ihn der Papst, seine Worte verkünden die Frohbotschaft und Produktetests zelebrieren das Hochamt. Und wenn der Fernsehmann in grossinquisitorischer Weise einen Wirtschaftsvertreter ins Kreuzverhör nimmt, jubelt sein Herz wie der Mob vor dem brennenden Scheiterhaufen.
In seinen Augen bin ich der dümmste aller Konsumenten, weil ich das bezahle, was auf dem Preisschild steht. Er aber kennt alle Tricks und Kniffe, er ist schlauer Sparfuchs und gewiefter Schnäppchenjäger. Die Schweiz ist für ihn eine Hochpreisinsel, er schlauer als jeder Robinson. Anschaffungen kommentiert er mit: «Wie viel hast du bezahlt?», um auf jede Antwort abschätzig zu schnöden: «Viel zu viel! Ich hätte nicht einmal die Hälfte dafür berappt».
Autos veräussert er nach Jahren mit Gewinn. Vermeintliches Sperrgut entsorgt er nicht über die Müllabfuhr, sondern verkauft es gewinnbringend im Internet. Er erwirbt nicht, um zu besitzen, er tut es, um zu sparen. Er kauft im Netz und ennet der Grenze, wo’s billig ist; er ist ja nicht so blöd wie ich.
Unlängst traf ich ihn – zermürbt, richtig niedergeschlagen. Seine Firma wurde von einem internationalen Konglomerat übernommen, die Arbeitsplätze weitgehend ins Ausland verlagert. Seiner ebenfalls. Dorthin, wo Arbeitskraft billig ist. Und zum ersten Mal monierte er «das billige Ausland».
Der Autor arbeitet, schreibt und kauft meist hierzulande.
14. Februar 2019 – 31: Klasse Klima
Endlich, dachte ich, als ich die Bilder engagierter Schülerinnen und Schüler sah, die jeweils freitags den Unterricht schwänzen, um für ein besseres Klima zu demonstrieren, endlich engagieren sich junge Leute wieder politisch und tun laut ihre Meinung kund. Auf die Null-Bock-Generation und die Generation Ego folgt eine Altersgruppe, die sich einmischt und kümmert. Und das ist gut so. Das freut mich. Denn schliesslich wird die Jugend von heute dereinst meine AHV zu finanzieren haben, und dazu wird eine gehörige Portion Selbstlosigkeit vonnöten sein.
Zwar erschloss sich mir die Kausalität zwischen leeren Klassenzimmern und dem Stopp oder gar der Umkehr des Klimawandels lange Zeit nicht. Aber das ist zweitrangig. Genauso zweitrangig wie die Frage, wann der versäumte Schulstoff nachgeholt wird. Wissen ist heute bekanntlich jederzeit und überall abrufbar, ergo stellt es in unseren Köpfen nur unnötigen Ballast dar, der verstaubt und sinnlos viel Platz vereinnahmt.
Kürzlich ist mir jedoch der Groschen gefallen: Als ich freitags völlig staufrei an den beiden Schulhäusern auf meinem Arbeitsweg vorbeifahren konnte, gelangte ich zur Erkenntnis, dass die durch Streiks verlängerten Wochenenden sehr wohl einen direkten, positiven Einfluss aufs Klima haben. Deshalb nämlich, weil Tausende von Eltern ihre Sprösslinge einen Tag weniger mit ihren schweren, durstigen Geländewagen direkt vor die Schulhauspforten chauffieren müssen und dadurch bestimmt Hunderte Tonnen von CO2 weniger in die Umwelt gelangen.
Der Autor grübelt dennoch darüber nach, weshalb nicht in der Freizeit demonstriert wird …
20. Dezember 2018 – 30: Nichts!
Noch während wir uns (mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken) feierlich geloben, dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke zu kaufen, zetteln Herz und Bauch eine Palastrevolte gegen den Kopf an. Weihnachten ohne Geschenke? Unvorstellbar! Doch vorerst halte ich Wort, und «nichts» bleibt tatsächlich nichts.
Das Damoklesschwert des heiligen Abends über dem Kopf, fahre ich in meiner Verzweiflung nach Zürich und stelle das Auto dort ab, wo die Parkgebühr mein Geschenkbudget um ein Mehrfaches übersteigt. Auf der Suche nach «nichts» betrete ich Läden, deren Namen laut zu denken mir wahrscheinlich eine Urheberrechtsklage eintragen würde, und kaufe blind ein.
Vollgepackt mache ich auf dem Weg zum Parkhaus am Weihnachtsmarkt Station und ertränke mein schlechtes Gewissen in Glühwein. Die klebrigen Depotmünzen von der Tasse werfe ich spendabel in den Sammeltopf der abstinenten Heilsarmee und murmle, sie sollen zumindest zu Weihnachten den Wein achten.
Im Parkhaus treffe ich einen anderen vollbeladenen Mann. In Ermangelung einer freien Hand deute ich mit dem Kinn auf seine sperrige Bagage. «Nichts?», frage ich, die Stirn runzelnd. «Nichts», nickt er mit einem leicht gequälten Lächeln. Mit dem Ellenbogen wähle ich das dritte Untergeschoss. Vor der Glastür bewegen sich die Wände nach oben.
Der Weihnachtsbaum funkelt mit den Augen meiner Lieben um die Wette. «Nichts» gefällt, doch nach einem Blick aufs Konto schwören wir uns feierlich, den Preis für «nichts» im nächsten Jahr tiefer anzusetzen.
Der Autor wünscht allen frohe Fresstage und lauter «nichts» unterm Baum.
11. Oktober 2018 – 29: Ohne
Das Pärchen am Tisch nahe des Eingangs erweckt den Eindruck, als hätte es sich eben erst im Internet und nicht für länger als ein Wochenende kennengelernt. Gespräch kann man das, was sich zwischen den Beiden zu entwickeln beginnt, nicht nennen. Vielmehr geht man offenbar einen im Kopf gespeicherten Fragenkatalog durch und arbeitet diesen Punkt für Punkt ab. Parallel scheinen via WhatsApp Einflüsterer zugeschaltet. Cyrano 2.0, denke ich.
Dann die Bestellung. Sie verlangt ein Mineralwasser «... ohne Kohlensäure!», er eine Cola «... ohne Zucker!». Zur Vorspeise wählt sie den Feldsalat «... ohne Ei!», er den Caprese «... ohne Basilikum!». Auch beim Hauptgang hält die Karte nicht bereit, was das Herz begehrt. Pizza Margherita darf’s für sie sein, «... ohne Käse!», ihn gelüstet (auch auf dem Teller) nach Fleischlichem: das Saltimbocca «... ohne Nudeln!». Zum Dessert lässt sie sich die kleine Meringue «... ohne Schlagrahm!» bringen, er den Coupe Dänemark «... ohne Schokolade!».
Gerade als ich mich frage, wann wir damit angefangen haben, unserer dekadenten Genuss-, Verschwendungs- und Wegwerfsucht mit dem Weglassen einer Zutat den schäbigen Mantel eines vermeintlichen Verzichts überzuziehen, dringt eine letzte Order an die Küche zu mir durch: ein Kaffee «... ohne Crème!» und ein Espresso «... ohne Koffein!». Ich zahle ... nicht ohne ein Trinkgeld zu geben. Auf dem Weg zum Ausgang drossle ich meine Schrittkadenz und wünsche den beiden bigotten Asketen noch einen schönen One-Night-Stand «... ohne Sex!».
Nach dem Vorkommnis suchte der Autor die Bar seines Vertrauens auf und gönnte sich einen grossen Gin Tonic ... ohne Tonic!
19. Juli 2018 – 28: Auto-Erotik
Bei der Autowaschanlage schloss ich jüngst Bekanntschaft mit dem Vertreter einer besonderen Spezies: Ein junger Mann, mit Schultern so breit wie die Spurweite seiner Sportbolide, machte sich an seinen Blech gewordenen Bubenträumen zu schaffen. Liebevoll, als trockne er beim Betrachten von «Pretty Woman» die Tränen seiner Angebeteten, wischte er mit einem Taschentuch letzte Wassertropfen von der Karosserie. Ein Blick in den Kofferraum des Objektes seiner Begierde legte die Sicht auf eine Fülle von Fläschchen und Tuben, Dosen und Tiegel, Läppchen und Schwämmchen frei, wie man sie sonst nur im Necessaire einer Jet-Set-Lady vermutet.
Der Zärtlichkeit, mit der er eine Politur in die Motorhaube einmassierte, wohnte der Hauch von Erotik inne. Für einen kurzen Moment wähnte ich mich mehr im Spa eines Luxushotels, denn am Ausgang einer Autowaschstrasse. Kein Zweifel, mein Staubsauger-Nachbar mit den Bizepsen in Form und Grösse polierter Bowlingkugeln, musste äussersten Wert auf penible Reinlichkeit legen. Ich nickte ihm anerkennend zu und meinte: «Ihre Holde kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Sie zu haben. Da ist die Wohnung bestimmt immer tipptopp in Schuss …»
Sein Blick trübte sich wie ein Scheinwerferglas auf der Fahrt über einen verregneten Feldweg. Ob ich des Wahnsinns sei, fragte er unter kategorischer Vermeidung des Genitivs. Putzen sei definitiv nur etwas für Frauen. Ich lächelte leicht irritiert, bestieg mein Fahrzeug und fuhr los, nach Hause, wo ich versprochen hatte, das Wohnzimmer staubzusaugen.
Der Autor mag «Pretty Woman» noch weniger als Hausarbeit.
7. Juni 2018 – 27: Der Maggiafluch
Meine Eltern erzählten stets, ich sei als kleiner Junge ein Blumenkind gewesen, und ich hätte an keiner Knospe oder Blüte, Rispe oder Ähre, Spirre oder Dolde vorbeigehen können, ohne sie fasziniert zu betrachten. Der Sinn für die Flora wurde in der Pubertät von anderen Interessen verdrängt und keimte erst wieder auf, als wir in dieses alte Pfarrhaus mit Garten zogen.
Ein: «Aus diesem Gras wird nie etwas!» von meiner Holden weckte in mir den Ehrgeiz, einen Rasen zu kultivieren, auf den man selbst in Wimbledon neidisch wäre. Ich warf allem Unkraut den Fehdehandschuh hin und rüstete mein Arsenal an Pestiziden auf.
Das letzte Wochenende verbrachten wir im Tessin. Auf dem Weg durchs Maggiatal fragte meine Frau, was das wohl für Grünzeug sei, dort im Wald. «Unkraut!», zischte ich, worauf sie entgegnete, ich solle meine Zunge zügeln, bevor ich Opfer des Maggiafluchs würde und meine Seele erst dann Ruhe fände, wenn ich sämtlichen Beiwuchs im gesamten Tal gejätet hätte.
Nachts träumte ich, wie im Jahr 2500 eine Tessiner Elisabeth Pfluger von einem Frevler erzählt, der seit einem halben Jahrtausend Tag und Nacht durch die Wälder des Maggiatals streifen müsse, um Unkraut auszurupfen und nicht eher sterben könne, bis er auch das letzte Pflänzchen eliminiert habe.
Schweissgebadet wachte ich auf und beschloss kurzerhand, das Grün in unserem Garten nicht mehr länger Rasen, sondern Wiese zu nennen. Ob es einen Maggiafluch gibt, weiss ich nicht. Aber sicher ist sicher … und seither finde ich die Wildblumen auf unserer Matte ganz hübsch.
19. April 2018 – 26: Haartracht
Es ist wohl einzig der Beisshemmung dieses muskulösen Mannes geschuldet, dass ich aktuell noch lebe. Als ich ihn jüngst aus naiver Neugier fragte, ob er zum Zeichen seiner Sympathie mit Kim Jong Un die Haare auf der Seite geschoren und oben in Form eines überdimensionalen Blutegels trage, zeigte er sich irritiert. Meine zynische Feststellung, in den 1940er-Jahre hätte er mit seiner Haartracht perfekt in die braune Uniform gepasst, quittierte er (nach einigem Grübeln) mit: «Ich schlage keine alten Leute, sonst wärst du jetzt so etwas von tot, Mann …» Merci.
Nur unwesentlich beliebter hätte ich mich um ein Haar bei einer Gruppe markant bebrillter Endzwanziger gemacht, die Chai Latte schlürfend lethargisch über den Asphalt schlurfte. Von hinten betrachtet mahnten ihre zu Dutten zusammengeknoteten Haare, in Kombination mit dunkel glänzenden Daunenjacken, unweigerlich an Müllsäcke am Strassenrand. Ich konnte mich gerade noch bremsen, jeden Einzelnen mit einer Entsorgungsmarke zu bekleben.
Zurückgehalten habe ich mich auch bei den beiden Studenten mit ausgefranzten, naturbelassenen Bärten, die mit Rucksäcken auf den Schultern am Perron die Einfahrt eines Intercitys abwarteten. Weil ihr Aussehen beide Schlüsse zuliess, hätte ich gerne von ihnen erfahren, ob sie mit Interrail Europa erkunden oder als Kämpfer in den Jihad ziehen wollen. Aus Angst, es könnte sich um Zweiteres handeln, kämmte ich mir jedoch bloss fahrig mit den Fingern eine Strähne aus der Stirn und trottete von dannen – zum Coiffeur.
Der Autor trägt Seitenscheitel. Links.
15. Februar 2018 – 25: Tolerierte Intoleranz
Es ist noch keine gefühlte drei Jahre her, da gestalteten sich die Speisekarten führender Restaurants meist so leicht überschaubar wie die Teller der Hauptgerichte. Ein konzentriertes Angebot aus regionalen, marktfrischen Zutaten, meisterhaft frisch zubereitet – ein Gedicht!
Dann folgte die Deklarationspflicht für Fleisch, die ich gut nachvollziehen kann, denn schliesslich ist es unser gutes Recht, zu erfahren, ob wir mit dem nächsten gezielten Gabelhieb ein glückliches Schwein harpunieren oder eine arme Sau. Zuweilen instruierten die Gastronomen ihr Servicepersonal derart perfekt, dass dieses einem nicht nur den Hof des Lieferanten, sondern sogar die Namen der in die Pfanne gehauenen Tiere aus dem Stegreif zu nennen imstande war.
Zwischenzeitlich lesen sich Menükarten beinahe wie die Beipackzettel verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Im Kleingedruckten, das den allgemeinen Geschäftsbedingungen von Versicherungen in nichts mehr nachsteht, sind sämtliche möglichen Allergene von Gluten über Eier, Schalenfrüchte und Senf bis hin zu Lupinen fein säuberlich gelistet. Die Lektüre erweckt den Eindruck, als raffe es die vermeintliche Krönung der Schöpfung demnächst an Sesam dahin.
Dennoch, die Allergie-Hysterie hat auch ihre Sonnenseiten: Seit unsere Tochter ihre Aversion gegen Zucchini nicht mehr offen eingesteht, sondern als schwere Intoleranz (wenn nicht sogar Allergie!) deklariert, wird sie nicht länger von oben herab verspottet, sondern voller Mitleid bedauert. Und das schmeckt ihr ...
Der Autor ruft zu mehr Toleranz für Intoleranzen auf.
9. November 2017 – 24: Kalter Krieg
Wenngleich ich mich geflissentlich eines pazifistischen Gedankenguts bemühe, entbrennen sporadisch Konflikte, deren groteske Seite mich zu amüsieren vermag. Einer davon bahnt sich aktuell auf vielen heimischen Balkonen und in Vorgärten an. Wenn die Temperaturen sinken und Weihnachten am Horizont erscheint, ist die Zeit eines ganz speziellen Kalten Krieges gekommen.
Die Plastik-Skelette mit den Konturen von Rentieren, Schlitten, Hirschen, Rehen und Weihnachtsmännern verheissen einen heissen Advent. Auch wenn sie des Abends vielerorts noch ausgeschaltet bleiben und ihren hektisch blinkenden Rotlichtmilieu-Charme erst später versprühen werden, schreckt ihre schiere Präsenz Besitzer von konventionellen Lichterketten bereits heute ab. Und so mancher Buchsbaum bleibt undekoriert, weil in der Nachbarschaft derart kräftig aufgerüstet wurde, dass das eigene Illuminations-Arsenal verschwindend bescheiden wirkt wie ein bengalisches Zündhölzchen neben dem Oensinger Feuerwerk zur Sonnwende.
Doch noch bleibt genügend Zeit für einen Grosseinkauf im Baumarkt. Noch ist es nicht zu spät, sich eine komplette Herde von funkelnd glitzernden Stromtieren zuzulegen und sie strategisch intelligent, von der Strasse aus gut sichtbar, in Position zu bringen. Millionen Laserpunkte aus der Lichtkanone werden das gepflegte Eigenheim zusätzlich in festlichem Glanz erstrahlen lassen. So sind wir gewappnet, um am Tag X angemessen auf Nachbars Erstschlag zu reagieren und ihn mit vorweihnachtlicher Stimmung zu übertrumpfen. Der Countdown läuft, das Fest der Liebe kann kommen.
Der Autor wünscht frühzeitig allen eine erleuchtete, erleuchtende Adventszeit.
19. Oktober 2017 – 23: Titel machen Leute
Endlich kämpfe ich mich wieder einmal durch den Stapel von Visitenkarten, der sich in meiner Schreibtischschublade aufgetürmt hat. Andächtig lese ich die Berufsbezeichnungen und Titel, bis mir beinahe schwindlig wird. Unglaublich, welch bedeutenden Protagonisten der Weltwirtschaft ich offenbar in der letzten Zeit begegnet bin, ohne mir darüber richtig im Klaren zu sein.
Der nervöse, windige Verkäufer mit dem fettigen Haar, der mir einen Eintrag in irgendeinem Online-Telefonbuch schmackhaft machen wollte, ist nichts Geringeres als ein «Head of Sales & Key Account Manager». Die abgetakelte Mittfünfzigerin, die mich im zu knappen Ledermini und mit penetranten Parfüm für Werbung auf Pissoirs zu motivieren versuchte, bekleidet den Rang eines «Chief Marketing Officer & Board Member». Und der kaum der Grundschule entwachsene schnoddrige Schnösel mit den nikotingelben Fingern und den geweiteten Pupillen, der fand, eine Firma, die seinen Anlass nicht als Sponsor unterstütze, sei dem Untergang geweiht, entpuppt sich jetzt, im Nachhinein, als «Managing Director & Customer Experience Manager». Früher machten Kleider Leute, heute sind es Titel.
Was in meiner Telefonliste jetzt noch fehlt, ist die Nummer eines Unternehmers. Der Mann hat mit Einsatz, Geist und harter Arbeit aus dem Nichts die weltweit grösste und bedeutendste Firma seiner Branche erschaffen, beschäftigt über 2‘400 Menschen und zählt gemäss «Bilanz» zu den 300 reichsten Schweizern. Im Telefonbuch finde ich ihn auf Anhieb mit Adresse und Telefonnummer. Auch eine Berufsbezeichnung steht neben seinem Namen: «Mechaniker».
Der Autor ist gelernter Elektromechaniker. Heute schmückt aber ein englischer Titel seine Visitenkarte.
17. August 2017 – 22: Total emojional
Wer sich auf Urlaubsreisen über die Grenzen seiner linguistischen Komfortzone hinaus wagt, wüsste zuweilen gerne einen Dolmetscher an seiner Seite, auf dessen Mehrsprachigkeit man sich bei Bedarf verlassen kann.
Übersetzer sind unverzichtbar. Sie machen uns Fremdes zugänglich, bauen Sprachbarrieren ab, ebnen den Weg zur Verständigung. Man munkelt, ihr diplomatisches Geschick hätte schon Kriege verhindert, und so manchem Buch wurde erst durch das Talent seiner Übersetzerin ein stilistischer Wert eingehaucht.
Doch was ich neulich in einem Radiobericht vernahm, liess mich erschreckt aufhorchen: In London engagierte ein global agierendes Sprachdienstleistungsbüro den ersten Emoji-Übersetzer der Welt. Jemanden also, der diese kleinen Piktogramme erforscht, die unserer Sprache auf Online-Plattformen und in Textnachrichten Schlimmeres antun, als eine Horde Zünsler stattlichen Buchsbäumen, sie akkurat erfasst, wissenschaftlich interpretiert und katalogisiert.
Vor meinem geistigen Auge erscheinen Archäologen, die dereinst den Computer des Emoji-Verstehers zutage fördern, ihn zum Funktionieren bringen und seine Dateien quasi als Rosettastein zur Deutung unserer Sprache einsetzen werden. Ob all der Emojis dürften sie zum Schluss gelangen, dass es sich bei der Menschheit des frühen 21. Jahrhunderts um Primitive gehandelt haben muss, die nicht in der Lage waren, komplexe Sachverhalte auszudrücken, geschweige denn zivilisiert miteinander zu diskutieren. Und wenn man die aktuellen Nachrichten verfolgt, spricht leider nichts gegen ein derart vernichtendes Fazit.
Der Autor zieht Wörter den Hieroglyphen der Jetztzeit vor ;o)
8. Juni 2017 – 21: Alles (ver)klappt
Es sind viele Flaschen, die ich, akkurat nach Farbe getrennt, entsorge. «Hast du jetzt auch Ristorante?», fragt mich Beizer Raffaele, der harassenweise Leergut zur Sammelstelle bringt. «Besuch», rechtfertige ich mich. Dann fällt unser Blick auf einen fahlen, traurigen Mann Mitte dreissig, der sein Velo unter Quietschen zum Stehen bringt und aus dem kindgerechten Anhänger ein altes Einmachglas zutage fördert. Mit seinen Blicken streichelt er es ein letztes Mal, bevor er das gesprungene Glas melancholisch in der mit «WEISS» gekennzeichneten Öffnung bestattet. Den verrosteten Deckel überantwortet er wehmütig der Metallsammlung. Dann hält er für einen Augenblick inne. Innerlich bläst er den Zapfenstreich, äusserlich entledigt er sich kurz der selbstgestrickten Wollmütze, die ihm im Winter wohlige Wärme und im Sommer angenehme Kühle spendet.
Ein groteskes Bild. Doch nicht halb so grotesk wie der Anblick, der sich mir bei der Autobahneinfahrt in Egerkingen bietet. Am Rand der Rechtskurve liegen, komplett unzivilisiert, Zivilisationsabfälle, die sich nach dem hastigen Verzehr von Fastfood angesammelt haben und mit Schwung flugs aus dem Autoinneren verbannt wurden. So happy das Meal auch gewesen sein mochte, so sehr leidet die Umwelt unter der dummdreist ignoranten Verklappung seiner Überreste.
Vor diesem Hintergrund fühle ich mich bei der nächsten Glasentsorgungsaktion fast schon als Weltenretter und sehe geflissentlich über das breite Grinsen eines anderen Entsorgenden hinweg, als ich nach erfolgten Einwurf meine Mütze absetze und einige Sekunden in andächtigem Gedenken verharre.
Der Autor sammelt Flaschen … und rettet Welten.
20. April 2017 – 20: Die Diktatur der Minderheit
Vergangene Nacht war ich im Traum eine Strassenlampe, die sich mit ihresgleichen zu Kaffee und Kuchen traf. Es herrschte ziemlich gedämpfte Stimmung. Durch die kürzeren Nächte und die Tatsache, dass kommenden Sonntag die beiden fehlenden Regierungsrätinnen gewählt sein werden, fielen vielen von uns kaum mehr tragende Rollen zu. Vor ein paar Wochen noch war das alles ganz anders. Da hätte man überall ein- und ausgangs der Ortschaften Zusatzkräfte gebraucht. Manche von uns hatten sogar zwei oder drei Wahlplakate gleichzeitig präsentiert. «Meine Kandidatin hat es mit einem Glanzresultat in den Kantonsrat geschafft», strahlte eine städtische Laterne von oben herab. «Meinem fehlte der Biss», klagte ein schütterer Pfosten düster. «Ein Windstoss, und weg war er.»
Was uns aber dimmte und tief im Innersten fast zum Kurzschluss brachte, war, dass wir trotz aller Anstrengungen gerade mal einen Drittel der Wahlberechtigten an die Urne zu bewegen vermocht hatten. Ein Kandelaber laberte, eine Minderheit diktiere hier, wo es lang gehe. «Doch selbst wenn die dort oben zuweilen machen, was sie wollen, so hätte es allein das Volk in der Hand, zu bestimmen, wer machen darf, was er will», resümierte er abgelöscht.
«Nach der Wahl ist vor der Wahl», tröstete uns ein alter, verwitterter Mast mit tiefen Narben von Steigeisen hölzern. «In zwei Jahren geht’s schon wieder um den National- und Ständerat.» Stimmt. Und in der Zwischenzeit machen wir halt ab und zu ein bisschen Werbung für ein Käferfest. Im Gegensatz zu Wahlen mobilisieren organisierte Besäufnisse wenigstens die Massen.
Der Autor zählt zur wählenden Minderheit.
16. März 2017 – 19: Wie in Abrahams Schoss
Ich liebe die Zeit, wenn der Winter langsam in die zweite Reihe zurücktritt und dem Frühling Platz für sein Solo macht. Der Garten erwacht, lechzt nach Aufmerksamkeit, der Grill schreit förmlich danach, endlich wieder befeuert zu werden.
In der Absicht, zu diesem Zweck Rohstoff vom Rind zu besorgen, parke ich vor einem Lebensmittelladen. Vergeblich krame in den Hosentaschen nach Kleingeld für die Parkuhr. Fünf Minuten später kehre ich mit Grillgut zurück. Mir fällt sofort die Parkbusse auf, die neckisch unterm Scheibenwischer klemmt, und im Augenwinkel sehe ich einen unscheinbaren Mann schelmisch grinsen. Nach dem abgewetzten Ledermäppchen unter seinem Arm zu schliessen, befindet er sich auf der Pirsch nach Parksündern.
Am Nachmittag fahre ich bei Sonnenschein und wenig Verkehr nach Bern. Im Cabrio streichelt mir der Fahrtwind zärtlich durchs Haar. Auf einmal zucke ich zusammen: Getarnt, wie ein fieser Heckenschütze, lauert ein Radarkasten hinter einem Brückenpfeiler und lässt meinen Puls mit seinem roten Blitz in die Höhe schnellen.
Abends bin ich um achtzig Franken ärmer und um eine wohltuende Erkenntnis reicher: Fühlte ich mich ob der angespannten geopolitischen Situation gestern noch verängstigt, verspüre ich jetzt eine unglaubliche Gelassenheit. Denn ein Land, in dem die Justiz derart vorbildlich greift, dass Kleinkriminelle wie ich für fünfminütiges Parken ohne zu bezahlen oder fünf Stundenkilometer zu schnelles Brausen augenblicklich rigoros bestraft werden, lässt dem Bösen keine Chance. Wie schön, denke ich, und fühle mich fortan sicher wie in Abrahams Schoss.
Der Autor findet achtzig Franken für das Gefühl der Sicherheit keinen überhöhten Preis.
16. Februar 2017 – 18: Fiat Lux!
Wir wohnen keine hundertfünfzig Meter Luftlinie vom nächsten Baumarkt entfernt. Meine Frau spricht von einer «bevorzugten Lage», denn wenn sie einmal ihre Ruhe möchte, braucht sie mich bloss loszuschicken, um Schrauben oder Nägel zu besorgen, und kann auf Nummer sicher gehen, dass ich mich in der Welt der Bohrhämmer und Stichsägen, der Armaturen und Schalter, der Baustoffe und Farben verliere, ob der Vielfalt an Zargen und Beschlägen die Zeit vergesse und erst Stunden später wieder zurückkehre.
So weit, so gut. Doch des Nachts, wenn die Sonne von der Dunkelheit über die Klippe des Horizonts gestossen wird, verwandelt sich der Garten Eden für Heimwerker zu einem gleissend hellen Eiland. Halogenstrahler illuminieren Werbeschilder, Gebäude und Umgebung derart grell, dass daneben jede Supernova erblassen würde. «Lichtverschmutzung!», protestieren die einen, «fiat lux!» mögen andere denken. Sonderschichten für Kraft- und Elektrizitätswerke dürften unausweichlich sein, damit die Stromversorgung der Stadt unter der Last nicht zusammenbricht.
Unlängst las ich einen Artikel über spezielle Schutzbrillen, die an Polizisten, Lokomotivführer und Piloten abgegeben werden sollen, um sie vor den heimtückischen Gefahren von hinterhältigen Blendangriffen mit Laserpointern zu bewahren. Ich bin davon überzeugt, dass all die Astro-, Kosmo- und Taikonauten, die in ihren Raumstationen im Orbit um die Erde düsen,
über ähnliche Ausrüstungsgegenstände verfügen und einander stets, wenn sie nächstens die Schweiz überfliegen, warnend zurufen: «Schnell, die Brillen, der Baumarkt geht auf!»
Meinrad Kofmel wünscht sich, dass die Nacht wieder vermehrt der Dunkelheit gehört.
10. November 2016 – 17: Der Frankenretter
Es herrschte Konsternation, als ich meinem Bankkundenberater einen Vorschlag für das Geschäft seines Lebens unterbreitete. Einen kurzen Moment dachte ich sogar, er würde in Ohnmacht fallen. Dann wurde er sich offensichtlich der Ernsthaftigkeit meines Ansinnens gewähr, räusperte sich kurz und verliess den Raum, um ihn in Gegenwart seiner Vorgesetzten wieder zu betreten.
«Sie möchten was?», fragte diese ungläubig. «Einen Kredit über eine Milliarde Franken», antwortete ich souverän und schob ein höfliches «Bitte» nach. «Wofür brauchen Sie so viel Geld?», wollte die Chefin wissen. «Ich möchte Ihnen helfen», erklärte ich. «Ich biete Ihnen an, den Kredit zu einem Negativzins von einem lächerlichen halben Prozent zu übernehmen. Ende Jahr zahle ich alles, bis auf fünf Millionen, zurück. Als Sicherheit dürfen Sie den gesamten Betrag in Ihrem Tresor horten. Deal?»
Eigentlich dachte ich, Bankberatern sei es unter Androhung von Bonusentzug verboten, in Gegenwart ihrer Kunden Gefühlsregungen zu zeigen oder gar in schallendes Gelächter auszubrechen. Offensichtlich lag ich falsch, denn meine Gegenüber kriegten sich nach dem kurzen Monolog nicht mehr ein und prusteten lauthals los.
Die zwei wollten meiner Argumentationskette partout nicht folgen, wonach es uns nachhaltig gelingen könnte, die Attraktivität des Schweizer Frankens zu senken, wenn nur genügend Selbstlose wie ich Milliardenkredite zu Negativzinsen aufnehmen und mit dem dadurch verdienten Geld die Wirtschaft durch Konsum ankurbeln würden. Schade. Dann spiele ich halt wieder Lotto ...
Dem Autor wurde noch nie unterstellt, ein Finanzgenie zu sein.
11. August 2016 – 16: Ferienfolter
Gaby und Tom waren gerade dabei, uns mit ihren Ferienerinnerungen, die einem Romanschriftsteller nicht blumiger aus der Feder geflossen wären, zu teeren und zu federn. G&T, wie sie sich in Anlehnung an einen ihrer Lieblingsdrinks nannten, hatten gerade (einmal mehr!) die ganze Welt bereist und dabei offenbar (einmal mehr!) Abenteuer erlebt, für die normale Menschen mindestens neun Leben brauchen würden. «Und ihr?», fragten sie mit fieser Scheinheiligkeit, förmlich darauf brennend, dass meine Frau resigniert auf mich deuten und klagen würde: «Mit ihm kann man nie richtig verreisen. Er fliegt ja nicht.»
Aber ich war schneller. «Guantanamo Bay», sagte ich ernsten Blickes. Sie stutzten. Also setzte ich «Sport – zwei Wochen Waterboarding …» obendrauf. Verdutztes Schweigen. «Es war grossartig, ein echtes Erlebnis. Kein Massentourismus, Einzelzimmer, internationale Gäste, überhaupt nicht etepetete.» Ich hatte Fahrt aufgenommen. «Den Pool hatte man ganz für sich allein, überall aufmerksames Personal mit stets einem offenen Ohr, spannende Gespräche, amerikanischer Standard, was will man mehr … Ich sage euch, ein wahrer Geheimtipp für Adrenalin-Junkies. Ich kam übers Internet drauf; hab wohl die richtigen Seiten besucht. Was dann folgte, waren Tage in denen man Zeit und Raum komplett vergass, Emotionen pur und ein vollkommen neues Körpergefühl.»
«Cool!», meinten G&T knapp. Ein Hauch von Neid hing süss in der Luft. «Da fahren wir in den nächsten Ferien auch hin!» «Unbedingt», bekräftigte ich sie. «Ich wünsche euch, dass ihr ganz lang dortbleiben dürft.»
Der Autor lernte in den Ferien mit seiner Familie Prag kennen und lieben. Für den Nervenkitzel sorgten deutsche Autobahnen.
19. Mai 2016 – 15: Asche
«Mutter starb ganz plötzlich», erzählt Nicole mit einem dicken Kloss im Hals. «Und kurz darauf brannte auch noch ihre Wohnung aus.» Ich schüttle sprachlos den Kopf. «Der Radiowecker sei’s gewesen, haben sie gesagt, irgendein Kurzschluss.» Ja, davon hat man schon gelesen. «Das Schlimmste ist aber, dass im Feuer alle Fotos und Dokumente, alle Briefe und Tagebücher in Flammen aufgegangen sind. Alles, was blieb, war Asche – von ihrer gesamten Habe ... und nach der Kremation von Mutter ebenfalls.» Ich unternehme keinen trostlosen Versuch, sie zu trösten.
«Der Haushalt war schnell aufgelöst. Ein paar Behördengänge, ein paar Formulare, ein Besuch auf der Bank, und schon deutete nichts mehr darauf hin, dass es sie einmal gegeben hatte. – Ausser ...» «Ausser?», frage ich neugierig. «Ausser das Abonnement von ‹50plus›. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es abzubestellen. Jetzt flattert mir jeden Monat eine Ausgabe mit ihrem Namen in den Briefkasten und gaukelt mir für einen Moment vor, sie lebe noch.» Ich muss schmunzeln. «Als Erstes löse ich immer das Kreuzworträtsel, so wie sie es stets getan hat. Dann schicke ich sofort die Lösung ein.» «Sie hat nie etwas gewonnen», erinnere ich mich. «Ich schon. Ferien!», verrät Nicole stolz. «Nächstes Wochenende fahre ich zum Wellnessen ins Bündnerland.»
Ich freue mich für sie, denn ich bin sicher, die Tage werden Balsam für ihre Seele sein. Zu Hause bestelle ich mir ein Abonnement besagter Zeitschrift und hoffe dabei insgeheim, dass meine Tochter dereinst auch ein Wellnesswochenende gewinnen wird. Aber das hat noch Zeit. Sehr viel Zeit.
Der Autor verabschiedet sich mit diesen Zeilen für immer von Hanni und von Roger.
11. Februar 2016 – 14: Berufe(n)
Mit zehn träumte ich im Aufsatzklassiker «Was ich einmal werden will» vom Beruf des Pfarrers. Dazu hatte die Klasse auf Bubenseite noch ein paar Lokomotivführer, Polizisten, Kapitäne, Piloten und Ärzte im Angebot. Spätestens mit aufkeimender Pubertät wurde mir bewusst, wie grandios ich als Kirchenmann scheitern würde, und so investierte ich die Fünfliber, die mir eine Tante dann und wann «fürs Priesterseminar» zusteckte, in Süssigkeiten, die auf meinen Hüften Zinsen trugen, und in Hochglanzliteratur, die ich vorzugsweise unter dem Pullover an den Eltern vorbei in mein Zimmer schmuggelte.
Wie sehr sich die Zeiten und mit ihnen die Berufsbilder geändert haben, wurde mir jüngst bewusst, als ich dem zehnjährigen Spross unserer Gäste die Karrierefrage stellte. «Reich!», schoss er mir die Antwort mitten ins Gesicht. «Ist das alles?» Er lud nach: «Berühmt!» Mein Interesse, auf welchem Weg es der Dreikäsehoch zu Ruhm und Geld bringen wolle, betrachtete dieser kopfschüttelnd als törichte Unwissenheit eines Greisen. «Ich werde YouTube-Star!»
Kurz darauf blies man zum Aufbruch. «Die Tierheime machen sonst zu», erklärte die Mutter, «und Elias braucht unbedingt ein flapsiges, hässliches Kätzchen für seine Filme.» «Die Clips werden mich reich und berühmt machen», weihte mich Klein-Hitchcock ein und ergänzte kess: «Ich muss nicht arbeiten; nur die doofe Katze filmen und vermarkten.»
Was aus dem Jungen später auch immer werden wird, eines scheint gewiss: Wenn es mit dem YouTube-Star nicht klappt, schafft er es zweifellos als Wirtschafts- und Marketingprofessor zum Star der Hörsäle.
10. Dezember 2015 – 13: Die schwarze Liste
Keine Epoche bleibt von Plagen verschont. Im Mittelalter grassierte die Pest, heute tut dies das Telefonmarketing. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht unaufgefordert wildfremde Stimmen belästigen, um uns mit aufdringlicher Hartnäckigkeit irgendetwas zu verkaufen.
Als die Frequenz der Telefonate noch erträglich war, machte ich mir einen Sport daraus, meine Gesprächspartner pointiert ironisch abzuwimmeln. Mit der Anrufkadenz steigerte sich jedoch auch mein Ärger. Also suchte ich nach einem Weg, um bei den Callcenters in den Rang einer unerwünschten Person, einer persona non grata, abzusteigen. Doch weder giftiger Zynismus noch kasernenhofreifes Krakeelen zeitigten Wirkung. Deshalb greife ich jetzt, in der Vorweihnachtszeit, zum Äussersten und singe Werbeanrufenden aus voller Kehle mit meinem chronisch indisponierten Bass-Bariton das «Stille Nacht» vor – selbst wenn sich ob meiner Talentfreiheit sein Komponist im Grabe umdrehen dürfte.
Neulich erzählte ich einer Bekannten stolz von meiner Strategie. Sie verstummte abrupt, um mir dann empört zuzuzischen, dieses Lied stünde in der Schule, an der sie unterrichte, (wie übrigens alle Weihnachtslieder!) auf der schwarzen Liste, weil es die Gefühle Andersgläubiger verletzen könnte. «Das ist eine Posse!», entfuhr es mir. Sie schüttelte den Kopf: «Politische Korrektheit.» Ich schluckte leer. Doch dann keimte ein Hoffnungsfunke in mir auf. Vielleicht schaffe ich es dank einer Volksweise, die man aus Käthis Schulzimmer verbannt hat, doch noch auf die schwarze Liste der Callcenters. Und das wäre fürwahr ein famoses Weihnachtsgeschenk.
5. November 2015 – 12: Geniale Welt
Ich haste an einem Spielplatz vorbei, als mich auf einmal die Fetzen einer Konversation die Schrittkadenz verlangsamen lassen. Eine Mutter versucht, mit dem Talent einer Vorabendserien-Schauspielerin, peinlich berührt zu wirken. Vergeblich, denn in ihren Worten schwingt unüberhörbarer Stolz mit, als sie, am Sandkastenrand kniend und auf den blonden Dreikäsehoch deutend, wimmert: «Wir haben ihn abklären lassen. Er ist hochbegabt!» Mutter zwei fühlt sich herausgefordert, steigt in den Wettstreit ein und schildert, wie enorm sie darunter leidet, dass ihre Claire mit dreieinhalb bereits die kognitiven Fähigkeiten einer Zwölfjährigen besitzt. Das kann Mutter drei nicht auf sich sitzen lassen und jammert, ihr vierjähriger Matthieu werde mit zwanzig voraussichtlich einen IQ von über 200 erreichen. Er spiele virtuos Klavier und halte die chronische Unterforderung in der Vorschule nur dank Ritalin aus.
Ich bin baff. Im Mikrokosmos dieses einen Sandkastens scheinen sich gleich drei angehende Nobelpreisträger zu tummeln. Die Eintracht hat ein Ende, als der Mozart dem Einstein das Sandförmchen entreisst. Marie Curie schreitet ein, indem sie dem Mathematiker ihr Plastikschäufelchen direkt auf die Fontanelle knallt. Dafür hat der Klaviervirtuose kein Musikgehör und bewirft seinerseits die Chemikerin mit einer Handvoll Sand. Sekunden später rennen die drei Giganten des Geistes tränenüberströmt zu ihren Müttern.
Ernüchtert konstatiere ich: Auch wenn die Welt dereinst nur noch von Genies bewohnt und gelenkt werden sollte, ist das noch lange keine Garantie dafür, dass sie eine friedlichere wird.
6. August 2015 – 11: Der Pflanzenfresserfresser
Wochenmarkt. Dichtes Gedränge. Eine kleine Promenadenmischung schlängelte sich zielstrebig, wie einst Ingemar Stenmark durch die Slalomstangen, zwischen den Beinen der Marktbesucher durch. Sein Ziel war der Stand, an dem ich gerade Bündnerfleisch degustierte. Das Tier wedelte mit dem Schwanz, setzte seinen treuherzigsten Hundeblick auf und sah der Verkäuferin unterwürfig bettelnd in die Augen. «Na, du bist aber ein Süsser», flattierte ihm diese, «magst du ein Fleischi?» Ihre Hand hatte das Holzbrettchen mit den feinen Tranchen noch nicht erreicht, als eine verzweifelte Stimme durch die Menge drang. Sie gehörte einer nicht mehr ganz jungen, erstaunlich bunt gewandeten Dame. «Um Himmels willen, nein!», schrie sie, als führe man sie unschuldig zum Schafott. «Kein Fleisch ... er ist Vegetarier!»
Die Marktfrau stutzte gemeinsam mit allen anderen Zeugen dieser skurrilen Szene. Um sicher keinem Missverständnis zu erliegen, fragte sie nach: «Wer?» «Gandhi», präzisierte die Dame, «mein Hund.» «Hunde stammen von den Wölfen ab und sind Fleischfresser», stellte die Fleischfachfrau ihr Fleischfachwissen unter Beweis. «Nicht mein Gandhi», widersprach die Bunte mit dem grauen Haar. «Der ernährt sich rein pflanzlich. Mein Hund ist Vegetarier!»
Ich hielt dem Tier ein paar verführerisch duftende, hauchdünne Fleischscheibchen vor die Schnauze. Er schnappte gierig danach und verschlag sie genüsslich. «Alles in Ordnung», beruhigte ich die Menschentraube, die sich zwischenzeitlich gebildet hatte, und erinnerte mich daran, dass Rinder Pflanzenfresser sind. «Der Hund isst tatsächlich Vegetarier.»
14. Mai 2015 – 10: Die Volksseuche
Als sich die Tür zum Wartezimmer öffnete und die Praxisassistentin meinen Namen rief, schnellte ich flinker aus dem Stuhl als Usain Bolt aus den Startblöcken. Im Vorbeirennen warf ich den alten, abgegriffenen «Nebelspalter», in dem ich ohne zu lesen geblättert hatte, auf das Tischchen in der Mitte des Raumes und huschte schnurstracks ins Behandlungszimmer. Noch bevor mich der Arzt nach meinen Gebrechen fragen konnte, wartete ich mit einer niederschmetternden Diagnose auf: «Ich habe einen Hirntumor und brauche sofort eine CT, eine MRT und eine PET, um ihn zu lokalisieren.» Des Mediziners Frage, woher ich mir dessen so sicher sei, beantwortete ich mit: «Ich habe meine Symptome gegoogelt.»
Der Doktor konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Längst war ihm die Volksseuche Internetdiagnose hinlänglich bekannt. Immer öfter versammelten sich in seiner Praxis Hypochonder wie du und ich, um sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen zu lassen und um zu erfahren, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Als Dr. House noch im Fernsehen lief, hatte er bei einer bestimmten Klientel erst dann als kompetent gegolten, wenn er Lupus als Ursache der Beschwerden mit Sicherheit ausgeschlossen hatte.
Nach der Untersuchung schaute er mir tief in meine von Panik gezeichneten Augen, schüttelte langsam den Kopf und eröffnete mir vermeintlich Todgeweihtem: «Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die schlechte: Sie werden sterben.» Nach einer künstlerischen Pause fügte er hinzu: «Wann, weiss ich nicht. Das weiss niemand. Aber dass es nicht an diesem Kater sein wird, mit dem Sie heute herkamen, das weiss ich bestimmt.»
5. Februar 2015 – 9: Der Idi-Jod
«Hast du die Jodtabletten eingepackt?» fragte ich meine Frau leicht verunsichert auf dem Weg von der Haustüre zum Auto. Etwas gereizt verdrehte sie die Augen. «Selbstverständlich. Willst du nachschauen?» Den zynischen Unterton überhörend bejahte ich und förderte nach einigem Kramen in ihrer Handtasche eine Pillenschachtel mit der Aufschrift «Kaliumiodid 65 AApot» zutage. «Jedes Mal das gleiche Theater, wenn wir nach Schönenwerd fahren», zischte sie entnervt, während sie die Tabletten wieder in den unendlichen Weiten ihres Täschchens verschwinden liess.
«Ich könnte Thereses Einladung viel mehr geniessen, wenn sie nicht neben einem Atommeiler wohnen würde», rechtfertigte ich mich. Seit der Verteilradius für Jodtabletten als Antwort auf Fukushima von 20 auf fünfzig 50 Kilometer um die Standorte von AKWs erweitert wurde, nehme ich die potenzielle Bedrohung viel bewusster wahr. Die Betreiber vermeiden es zwar tunlichst, das böse Wort Atom in den Mund zu nehmen und sprechen beruhigend von Kernkraft, aber bei der Vorbeifahrt warf das verschwindend kleine Restrisiko durch die schiere Präsenz des kolossalen Kühlturms einen bedrohlichen Schatten.
Thereses Gulasch auf dem Teller und Gösgens Kühlturmwolke im Augenwinkel, verbrachten wir einen vergnüglichen Abend. Wieder zu Hause, kurz vor dem Einschlafen, seufzte meine Frau: «Manchmal bist du ein richtiger Idi-Jod! Mir graut vor nächstem Monat.» «Warum?» fragte ich naiv. «Da besuchen wir deine Cousine und ihren Mann.» Auf einen Schlag war ich hellwach. Mein Herz raste. Angstschweiss schoss mir auf die Stirn. – Hedy und Guido wohnen in Mühleberg …
6. November 2014 – 8: Der Kürzeste
Angeregt debattierten sie während des Zmittags – pardon – des Business Lunchs, wenn sie nicht gerade ihre E-Mails am Smartphone checkten. Man konnte sich des Gefühls nicht erwehren, die Welt stünde still, wenn es die vier Geschäftsherren nicht gäbe. «Fünfeinhalb. Auf keinen Fall mehr», warf der Träger der grünen Krawatte in die Runde. Die Nadelstreife lachte abschätzig: «Fünf – mehr wäre übertrieben.» Das karierte Hemd schaltete sich grinsend ein: «Vier. Maximal.» Und die randlose Brille posaunte vollmundig: «Drei Stunden. Mehr kriegt mein Körper nicht. Es ist der Triumph des Geistes über das Fleisch, meine Herren. Schlaf ist reine Verschwendung von Lebenszeit. Das Business schläft nie. Die Welt, sie dreht sich. Irgendwo ist immer Tag, und wer pennt, verpennt seine Chancen.» Die Runde nickte, zahlte und löste sich auf.
Ein paar Tage später traf man sich wieder und verlieh der Szenerie durch reine Präsenz etwas Bedeutungsschwangeres. Die randlose Brille allerdings fehlte. Von Zusammenbruch habe man etwas gehört, wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Die grüne Krawatte brabbelte von natürlicher Selektion und dass es die Schwachen halt zuerst nehme. Die Tür öffnete sich und Frau Brandstädter, Unternehmerin des Jahres, trat ein. Von den Schlaflosen nach dem Geheimnis ihres Erfolges befragt, meinte sie lächelnd: «Sie werden es nicht glauben, aber die Idee für mein Geschäft habe ich ganz einfach geträumt.» Ratlos starrte man sich in die von schwarzen Ringen umrahmten Augen, und blanker Neid stieg auf, als Brandstädter ausgeschlafen ergänzte: «Den Seinen gibt’s der Herr halt im Schlaf.»
7. August 2014 – 7: Gestrandet
«Pattaya wäre toll», schwärmte Tinu, während er im Unterhemd mit seinem Nachbarn am Gartenzaun stand, «da gäb’s was zu sehen: gertenschlanke Asiatinnen in winzigen Bikinis.» Rudi blickte schwärmerisch gen Himmel: «Oder Rio; dieses Samba-Gehupfe macht einfach fabelhafte Figuren. Und Stoff scheint dort echt Mangelware zu sein …» Er lachte. «Ibiza würde ich auch nicht verachten; überall junge Partydinger in Feierlaune …»
«Tinu!» Regis tragende Stimme schallte durchs offene Schlafzimmerfenster und holte die beiden Ferienexperten binnen Sekundenbruchteilen zurück in den Garten. «Passt dir deine blau-karierte Badehose von letztem Jahr eigentlich noch?» Verstohlen sah der Befragte nach unten. Auf dem Weg zu Boden entging seinem Blick der Feinripp, der bedenklich über dem Bierbauch spannte, nicht. Und die Zehen waren nur ansatzweise zu erkennen, wie sie aus den Adiletten hervor lugten. «Brauchst sie nicht einzupacken, Schatz!», rief er zurück. «Ich kaufe mir eine neue. Kariert ist nicht mehr in Mode, und jetzt ist sowieso überall Ausverkauf.»
«Wo geht’s hin?», wollte Rudi wissen. «Ins Tessin», antwortete Tinu etwas kleinlaut. «Mit dem Zug?» «Nein, Auto.» «Wann fahrt ihr?» «Morgen.» Rudi trat einen Schritt näher. Der beiden Nachbarn Bäuche berührten sich über dem Zaun. Er klopfte Tinu auf die Schultern und meinte aufmunternd: «Da hast du alles auf einmal: Anders als du ist Regi immer noch toll in Schuss, in den Grotti isst du besser als in Pattaya, die Hotels sind mindestens so teuer wie auf Ibiza, und mit Stau am Gotthard seid ihr länger unterwegs als nach Rio.»
15. Mai 2014 – 6: Lagerkost
Seit über zwanzig Jahren bekocht Heidi die örtliche Schuljugend in Klassenlagern. Sie, mittlerweile seit vier Jahren pensioniert, liebt es, Kinder beim Heranwachsen zu beobachten, zu spüren, wie sich in den paar Tagen ohne Eltern Persönlichkeiten entwickeln und Charaktere entfalten.
In den letzten Jahren wurde die Zeit vor der Abreise für Heidi immer mehr zum Spiessrutenlauf. Sie wurde im Supermarkt angesprochen, erhielt Telefonanrufe und Briefe, Mails und SMSen. Frau Güls besorgtes: «Für Hassan kein Schweinefleisch!» und Frau Levys ermahnendes: «David isst nur koscher!» kannte sie schon längst. Von Mal zu Mahl gesellten sich aber neue Wünsche hinzu: «Aida-Luzia ernährt sich rein vegetarisch», war noch der bescheidenste. Anouks Seelenheil schien von rein veganer Kost abzuhängen, Rosamaria-Elisabetha durfte ausschliesslich mit Lebensmitteln von bio-zertifizierten Landwirtschaftsbetrieben bekocht werden, Kevin-Jonhannes litt unter Laktoseintoleranz, Tina-Maria benötigte glutenfreie Kost. Anna-Regenbogenblumes Mutter schliesslich schwor auf streng makrobiotische Alimentation.
Das Damoklesschwert aller Wünsche, Ge- und Verbote ignorierend, kochte Heidi am ersten Lagerabend das, was sie schon seit über zwanzig Jahren am ersten Lagerabend immer zu kochen pflegte: Hörnli mit gemischtem Hackfleisch, dazu selbstgemachtes Apfelmus. Nicht der geringste Rest blieb übrig. Dutzende zufriedener Kinderaugenpaare schauten sie dankbar satt an und wünschten sich sehnlichst, dass Heidi auch im nächsten Jahr wieder die Lagerküche führt.
6. Februar 2014 – 5: Justitia
Neulich kam Bieri etwas zerknittert und in Begleitung eines Mannes im Massanzug zum Stammtisch. «Herr Bieri lässt sie grüssen, egal welchem Geschlecht, welcher Ethnie, Religion oder Gesinnung Sie angehören», verkündete dieser mit feierlicher Stimme. Dann orderte der Herr im feinen Zwirn Bier, Most, Wein und Mineralwasser. Als die Kollegen Bieri verdutzt ansahen, schob der Krawattenträger seine Nickelbrille mit Daumen und Mittelfinger zurecht und erklärte, er berate als Anwalt Herrn Bieri hinsichtlich dessen Auftreten und Aussagen im öffentlichen Raum. Und weil Bieri weder Bierbrauer, Obstbauern, Winzer noch Mineralwasserproduzenten bevorzugen, beziehungsweise diskriminieren wolle, bestelle er alles, was auf der Karte stehe. «Heutzutage weiss man ja nie, wem man an den Karren fährt», flüsterte der Mandant. «Politiker, Komiker, wir – keiner ist vor Klagen sicher.» Das leuchtete der versammelten Runde ein und stimmte sie nachdenklich.
Bevor sie aber alle nur noch in Begleitung eines Rechtsbeistands in die Beiz gingen, beschlossen sie, sich künftig bei Bieri zu Hause zum Feierabendbier zu treffen. Dort müssen sie sich mit ihrem Stammtischpalaver und ihren Herrenwitzchen nicht vor Justitia, sondern bloss vor Bieris Frau Annemarie fürchten.
Max, der Wirt, hat sich mit der Situation arrangiert. Bei ihm treffen sich nämlich seit einigen Wochen abends Anwälte, schweigen sich argwöhnisch an und trinken sich quer durch die fantasievoll ausgebaute Getränkekarte. Im Gegensatz zu seinen neuen Gästen, sagt er, könne er nicht klagen.
7. November 2013 – 4: Unter Haltung
Wenn sich dieser Samstage die Pforten der Mehrzweckhallen im Gleichtakt mit den Herzen und den Brieftaschen der in die Säle strömenden Menschen öffnen, tun sie Kunde davon, dass die Zeit der Turnerunterhaltungsabende wieder angebrochen ist.
In der Vergangenheit konzentrierte ich mich zu sehr auf die oft ungewollt komische Seite derartiger Veranstaltungen. Doch wenn im grellen Scheinwerferlichte, und zum Wohle der Vereinskasse, diffuse Talente zu schillerndem Glanz erstrahlen, wird mir heute klar, welch bedeutenden Beitrag Turnvater Jan zu Akzeptenz und Toleranz geleistet hat.
Denn da mutiert der engstirnige Griesgram zum eloquenten Kosmopoliten und das wortkarge Mauerblümchen zum mondän polyglotten Vamp, der homophobe Halbstarke zwängt sich ins rosarote Tutu, und die traditionsverliebte Lokalpatriotin entlockt virtuos einer Mizmar orientalische Klänge. Ali rappt, Fatma bauchtanzt, Haruki zeigt Ninjakunst. Dazwischen geben Gruppen selber choreografierte Darbietungen zum Besten, deren mangelnde Synchronizität mit wahrer Inbrunst mehr als wettgemacht wird, was die begeisterten Zuschauer mit frenetischem Applaus honorieren. Aus einem grauen Neben- wird ein buntes Miteinander, und zur Polizeistunde klingt es unisono, welch wunderbarer Abend dies doch war.
Ich wünschte mir, dass im gesellschaftlichen wie politischen Alltag diese offene, unvoreingenommene Haltung, wie sie an Turnerunterhaltungen anklingt, nachhallt und wir nicht immer wieder unsere Alltagsgesichter aufsetzen und uns in unsere Leben zurückziehen wie Schildkröten in ihre Panzer.
8. August 2013 – 3: Der Zoo
Einen Grossteil ihrer Ferien verbringen Heinz und Erna im Gäupark, jenem Menschenmagneten am Jurasüdfuss, der seine Besucher nicht nur zum Einkaufen anzieht, sondern auch einfach nur zum Schauen. Kurz nach Ladenöffnung setzen sie sich auf eine strategisch gut gelegene Bank und beginnen mit ihrer Observierung.
Geheimagenten werden darauf geschult, während ihrer Bespitzelungen unsichtbar zu bleiben. Heinz und Erna wurde ganz offensichtlich nie eine derartige Ausbildung zuteil. Mit ausladenden Gesten lästern sie, bezichtigen, empören sich, verfolgen Menschen mit ihren Blicken und kommentieren lauthals sämtliche Beobachtungen. Dabei stossen sie sich mit mechanisch gleichmässigen Bewegungen Kalorienhaltiges vom Imbissstand oder Gratis-Bratwürste, die es bei Ladeneröffnungen gibt, in ihre gierigen Schlünde.
Wer in Einkaufszentren verweilt und schaut, betreibt veritable anthropologische Studien, denn hier kann der Homo sapiens in jeder erdenklichen Ausprägung erlebt werden. Glücklich, erfüllt und erschöpft wie Dian Fossey nach einem Tag mit ihren Gorillas im Nebel, reiten Heinz und Erna des Abends mit ihrem Subaru in den Sonnenuntergang, zurück in ihr Reiheneinfamilienhäuschen. Dort ärgern sie sich über den penetranten, neugierigen Nachbarn, der ungeniert seinen Blick über den Gartenzaun wirft. Sie wehren sich mit wüsten Worten gegen das Eindringen in ihre Privatsphäre. Er solle sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern und die Nachbarn in Frieden lassen, schliesslich sei dies hier ihr Vor- und kein zoologischer Garten.
16. Mai 2013 – 2: Added Value
Seit eine seltsame Laune der Natur aus uns Schweizern ein Volk von Schnäppchenjägern und Punktesammlern gemacht hat, kann man nirgendwo mehr etwas kaufen, ohne zusätzlich einen weiteren Artikel vermeintlich geschenkt zu erhalten. Damit meine ich nicht die zwei Scheiben Lyoner, welche die in Zeitlupe agierende, wurstfingrige Charcuterieverkäuferin auf die bereits abgewogenen hundertfünfzig Gramm legt. Ich spreche vom DVD-Player, ohne den man den neuen Fernseher nicht geliefert bekommt, von der mutmasslich unter LSD-Einfluss designten Polyesterkrawatte, die dem schlichten, weissen Baumwollhemd beiliegt, oder vom Extra-Pärchen Bratwürste aus der 3-für-2-Aktion, das im Müll landet, weil niemand das Risiko einer Bratwurstvergiftung eingehen will.
Immer wenn mir derartige Angebote ins Auge stechen, muss ich an den alten Schenker denken, dessen Person und Name ich an dieser Stelle frei erfinde. Er hatte sich nie mit den Preisen der heutigen Zeit abfinden können und deshalb den seiner Ansicht nach zu viel verlangten Betrag stets in Form von allerlei Naturalien mitgehen lassen. Den Kaffee crème rundete er grosszügig mit einem Kaffeelöffel oder einer Untertasse auf, das Mittagsmenü im Bahnhofbuffet mit einem Messer, einer Gabel oder einem Weinglas, und den bierseligen Abend liess er, der Nichtraucher, gerne mit einem Aschenbecher ausklingen. So kam im Laufe der Jahre jede Menge Nippes zusammen, den er nur hortete, ohne ihn je zu gebrauchen, und den seine Tochter nach Schenkers Tod auf dem Flohmarkt veräusserte. – Zugunsten der Alzheimerstiftung.
14. Februar 2013 – 1: «Gäu, du könnsch mi ned ..?»
Das närrische Treiben hat ein Ende, die Larven sind, ob sie gefielen oder nicht, gefallen, die blauen Jecken ausgenüchtert, die bunten Jacken ausgelüftet. Die feuchte Fröhlichkeit in den Gesichtern ist dem trockenen Alltagslätsch gewichen. Überall? Nicht ganz. Hartnäckig verstecken sich noch immer auf Plakaten an Kandelabern und waghalsigen Dachlattenkonstruktionen potenzielle Kantonsrätinnen und Kantonsräte hinter teils maskenhaft grotesken Gutelaunemienen, durch welche die Fasnachtshymne stumm weiterlallt und widerhallt: «Gäu, du könnsch mi ned ..?»
Noch spielt sie, die Musik zur Reise nach Jerusalem, auf der es mehr Teilnehmer als Sitze gibt. Den Kandidierenden steht der Moment der Entlarvung noch bevor, in dem sich herausstellt, ob sie edelmütige Gewinnerinnen sind oder überhebliche, gute Verlierer oder schlechte. Einmal vereidigt, folgt die Zeit der Bewährung, da es den Beweis dafür anzutreten gilt, dass Wahlparolen mehr sind als reine Push-up-BH-Floskeln, die viel versprechen ohne kaum etwas zu halten.
Während einige im neuen Parlament die Erfahrung machen werden, dass Pluralismus weniger aus mantraartig heruntergebeteten, markigen Slogans besteht, als vielmehr aus Zuhören, Verständnis, Diskussion und Konsens, formt sich hüben wie drüben bereits eine neue Stammtisch-Intelligenzija, die nicht nur aus unserem Skiteam das beste des Universums formen und unsere Fussballnati zur Weltmeisterschaft führen, sondern auch sämtliche Probleme der Welt lösen und es denen da oben schon zeigen würde, wenn man sie nur liesse.
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