Claus Meyer, Gastrounternehmer und Foodaktivist
Besessen vom echten, unverfälschten, frischen Geschmack
Sein Name sorgt bei Gourmets auf allen Kontinenten für leuchtende Augen. Er war in den 1990er-Jahren Dänemarks bekanntester TV-Koch. Sein New Nordic Food Manifesto stiess eine öffentliche Debatte zur Lebensmittelqualität an. Mit dem «NOMA» gründete er ein Restaurant, das viermal zum besten der Welt erkoren wurde. Meyer ist aber nicht nur ein begnadeter Gastronom, er ist eine faszinierende Persönlichkeit mit einer spannenden Biografie voller Brüche. Und er ist – im positivsten Sinne des Wortes – ein Besessener. Besessen vom echten, unverfälschten Geschmack, von Frische, Authentizität und Nachhaltigkeit. Sein Credo deckt sich hundertprozentig mit JURAs Versprechen: Kaffeegenuss – frisch gemahlen, nicht gekapselt.
Claus Meyers Lebensgeschichte inspiriert. Sie zeigt auf, wie man für seine Ideen und Ideale einstehen und seine Ziele erreichen kann. Dabei erwies sich der heimische Boden nicht gerade als fruchtbar für jemanden, dessen Vision der Genuss war. «Während dreihundert Jahren haben in Dänemark ätzende Mediziner und puritanische Geistliche einen Kreuzzug gegen den Hedonismus geführt, gegen die Freuden des Lebens, gegen die Freuden des Essens.» Meyer nimmt kein Blatt vor den Mund. «In diesem geradezu prohibitiven Klima ist kulinarischer Genuss zur Sünde verkommen; gleichgesetzt mit Diebstahl, Alkoholmissbrauch, ausgelassenem Tanzen und fleischlichen Sünden. Man schien uns weismachen zu wollen, das Rezept für ein langes, gesundes Leben, das einen dereinst ins himmlische Paradies führen würde, bestehe aus dem eiligen Verschlingen von Speisen mit schrecklichem Geschmack.»
In den 1960er-Jahren wurde er also quasi ins finsterste Mittelalter dänischer Esskultur hineingeboren. Als erwerbstätiger Frau blieb seiner Mutter nicht viel Zeit zum Kochen. Und so wuchs der kleine Claus mit tiefgefrorenen, vorgegarten, eilig erhitzten, in Margarine ertränkten Lebensmitteln auf. «Mit vierzehn wog ich siebenundneunzig Kilo und zählte zu den drei dicksten Kindern in Süddänemark», erinnert er sich und überspielt seinen Verdruss mit einem Augenzwinkern. «Während meine Grosseltern delikate Menüs zubereiteten, fehlte der Generation meiner Eltern komplett der Bezug dazu. Essen hatte für sie nichts Sinnliches; Essen war eine Notwendigkeit und musste deshalb billig, schnell zubereitet und in Rekordzeit verschlungen sein.»
Als er ein Teenager war, liessen sich seine Eltern scheiden. «Sinnigerweise erörterten sie dieses Thema, während im Hintergrund die Mikrowelle den Soundtrack dazu lieferte.» Sein Leben veränderte sich von Grund auf, als er nach dem Abitur ein Jahr als Au-pair in Frankreich verbrachte. Bei seinen Gasteltern lernte er die Freuden der Kulinarik kennen. «Guys – er führte in vierter Generation eine Bäckerei – und Elisabeths Einstellung zu Nahrung und Geschmack stellte die krasse Antithese zum Leben mit meinen leiblichen Eltern dar.» Claus berichtet von einem prägenden Moment in seinem Leben: «Als die Lebensphilosophie meines biologischen Vaters und jene meines spirituellen Vaters aufeinanderprallten, stand das Streben nach grösstmöglicher Effizienz und ökonomischem Erfolg einem renaissanceartigen, grosszügigen, lebensfrohen Verhalten gegenüber.»
«Was immer du tust, folge der Stimme deines Herzens, und du wirst es mit Freude tun.»
Der Bäcker verwendete nur beste und frische Zutaten. Er hinterfragte keine Rohstoffpreise. Für ihn zählte einzig das perfekte Resultat. «Er war kompromisslos – aber ein fürchterlicher Geschäftsmann. Obwohl er der bekannteste Patissier in der Gascogne war, verdiente er unterm Strich null Komma gar nichts.» Eines Tages platzte Claus der Kragen: «Ich sagte ihm, er müsse entweder die Preise erhöhen oder Leute entlassen. So könne es nicht weitergehen. Dann schaute er mich mit seinen gütigen, braunen Augen an und zitierte den französischen Poeten Félicien Marceau: ‹Le bonheur, c’est savoir ce que l’on veut et le vouloir passionnément.› Mein Sohn, was immer du auch in deinem Leben tust, folge der Stimme deines Herzens, und du wirst es mit Freude tun. Das stand diametral zu dem, was mir als Kind eingetrichtert worden war: ‹Ich kümmere mich einen Dreck darum, was du tust, solange du dich beeilst.›»
Zurück in Kopenhagen, führte Claus für die Business School eine Studie durch, welche die Korrelationen zwischen der Zeitwahrnehmung und dem Glücksempfinden beinhaltete. Bemerkenswert darin waren die beinahe kongruent ansteigenden Linien von Scheidungen und der Verbreitung von Mikrowellengeräten. Damit gewann er keinen Preis, jedoch die Erkenntnis, die Essgewohnheiten in seinem Land ändern zu wollen. «Vielleicht war ich naiv in meinen romantischen Gedanken gefangen, doch ich glaubte, wenn mir das gelänge, könnte ich Kinder davor bewahren, dass sich ihre Eltern ebenfalls zum Geräusch der Mikrowelle scheiden lassen.»
Ohne die geringste Ahnung, wie sich eine Genusskultur ändern liesse, aber besessen von der Idee, übernahm er noch während des Studiums die Leitung der Universitätskantine. Er brachte sich selbst bei, Mikrofirmen zu gründen. Nicht weniger als elf davon rief er ins Leben, darunter eine Essigfabrik, eine Apfelsaftfabrik, eine Kaffeerösterei und eine Importfirma für französische Grand-Cru-Schokolade. Wo immer er Potenzial für kulinarische Farbtupfer auf der öden Geschmacksleinwand ortete, versuchte er, diese mit vielfältigen, hochwertigen Produkten zu setzen.
«Ich habe mit radikalen Projekten die Branche aufgemischt und betonköpfige Denkhaltungen zerschlagen», berichtet er schelmisch. Der ökonomische Erfolg indes blieb bescheiden. Stück für Stück fand aber ein Umdenken statt. «Genau das war mein Ziel: Spuren zu hinterlassen … ohne dabei pleitezugehen.»
2001 suchte er nach neuen Wegen. «Ich versuchte nicht länger, die Produkte zu verändern, sondern die Esskultur.» Die französische Küche hatte an Momentum verloren, die spanische war zu einer Molekularküche verkommen, wo nunmehr Alchemisten künstliche Zutaten zusammenbrauten. Meyer gründete ein komplett auf nordische Küche fokussiertes Restaurant und nannte es «NOMA». Der Name setzt sich aus den dänischen Wörtern «nordisk» (nordisch) und «mad» (Essen) zusammen. Dort verband er traditionelle Kochtechniken mit neuen, wobei er seine Gerichte zu hundert Prozent aus lokalen Erzeugnissen zubereitete, was damals komplett gegen gängige Gepflogenheiten verstiess. Er engagierte mit René Redzepi einen begnadeten jungen Koch, der zum kongenialen Geschäftspartner wurde. Gemeinsam begannen sie, an einem Manifest für die neue nordische Küche zu arbeiten.
«Essen geht weit über das reine Geschmackserlebnis hinaus. Es geht auch um Nachhaltigkeit, darum, Abfallberge zu vermeiden.» Mit «NOMA» definierte Claus Meyer Luxus neu. Nicht länger Kaviar, Hummer, Gänsestopfleber und Co. wurden an einer Tafel mit handgebügelten, gestärkten, weissen Tischtüchern gereicht, sondern einfache Zutaten, ehrlich und authentisch zubereitet, an bescheidenen Holztischen serviert.
«Wir wollten einen ‹Virus› freisetzen und damit eine Gastronomierevolution anstossen.»
Meyer lud zu einem Symposium und fragte: «Dürfen wir davon träumen, unseren Kindern einst eine Esskultur zu hinterlassen, die so viel nachhaltiger, verantwortungsvoller, köstlicher, authentischer, lokaler ist als das kulinarische Vermächtnis unserer Eltern?» Bei dieser Gelegenheit wurde auch das Manifest als Leitbild für die Idee unterzeichnet. Der Rest ist Geschichte: «NOMA» wurde viermal zum weltbesten Restaurant erkoren. «Es war nie die Intention, mit ‹NOMA› die Nummer eins zu werden oder eine neue Küche für einen elitären Kreis zu erfinden. Wir wollten einen ‹Virus› freisetzen und damit eine Gastronomierevolution anstossen.»
Beflügelt von den Erfahrungen, mochte er nicht länger hinnehmen, dass auf dem dänischen Markt kein köstliches, gesundes Vollkornbrot zu erwerben war. «Die Supermärkte quollen über vor Weissbrot aus russischem, in Norwegen gemahlenem Korn. Bio? Gesund? Fehlanzeige!» Meyer buk Laibe aus lokalen, biologischen Zutaten. Verkaufen wollte er sie aber nicht, indem er vom Elfenbeinturm herab die Frohbotschaft gesunden Brotes verkündete. Deshalb ging er mit seiner mobilen Bäckerei an Open-Air-Konzerte. Dort stand er dann, der TV-Starkoch, der Spitzengastronom, hemdsärmelig, mit skurrilem Sonnenhut und kurzer Hose auf einer aus zwei Paletten improvisierten Bühne und schrie sich die Kehle aus dem Leib: «Mehr Salz! Mehr Geschmack! Volles Korn!» Angesteckt von seinem Enthusiasmus, stimmte das Volk in seine Hymne auf gesunde Ernährung ein und stand in langen Schlangen an, um von Meyers gesunden Speisen zu kosten.
Mit dem Durchbruch seiner Ideen stellte sich auch materieller Erfolg ein. Typisch für den atypischen Unternehmer kommentiert Claus: «Ich fühlte mich nicht gut dabei, so viel Geld zu verdienen. Das war nie meine Absicht. Ich wollte Wirkung erzielen, wollte die Genussgewohnheiten ändern.» Deshalb überlegte Meyer, ob er nicht nur die Esskultur im reichen Dänemark, sondern auch anderswo ändern könnte. «Das würde meiner Idee so viel mehr Sinn und Gewicht geben.» Um es festzustellen, gründete er die Melting Pot Foundation mit dem Ziel, die Lebensqualität zu verbessern und Menschen Zukunftsperspektiven zu geben. «Es ausserhalb Dänemarks zu versuchen, geht auf eine Diskussion mit meinem Compagnon zurück, der eines Tages fand, man könne das Wort Nordic aus dem New Nordic Cuisine Manifesto streichen.»
Bei einem Dinner lernte er einen Gefängnisdirektor kennen und kam auf die Idee, dieser Ort sei ideal, um Menschen für die authentische Küche zu sensibilisieren und ihnen gleichzeitig eine Aufgabe und eine Tagesstruktur zu geben. «Wir gingen eine Partnerschaft mit dem Danish Prison Service ein und betrieben auf einmal die Küchen dreier verschiedener Gefängnisse», erzählt Meyer nonchalant. Es stellte sich als ein demütigendes Unterfangen heraus, das ihn unversehens auf den harten Boden der Realität zurückholte. Hoffte er zunächst, die Inhaftierten würden ihm für die Eröffnung von Kochschulen applaudieren, musste er schnell feststellen, dass sie sich nicht im Geringsten darum scherten. Im Gegenteil: «Sie nannten mich einen aufgeblasenen Grosskotz, der bloss seine eigenen Interessen im Kopf hat.» Doch Claus Meyer wäre nicht Claus Meyer, wenn er resigniert hätte. Er schaffte es, den Häftlingen auf Augenhöhe zu begegnen, und gewann so ihr Vertrauen. Noch heute existieren zwei der Kochschulen. «Das dritte Gefängnis wurde geschlossen», ergänzt Claus schmunzelnd.
Meyer und sein Team besannen sich erneut auf die Grundidee der Melting Pot Foundation und stellten sich die provokative Frage: «Kann man Armut mit Köstlichkeit bekämpfen?» Um das herauszufinden, reiste Claus nach Bolivien, ins ärmste Land Südamerikas, mit dem Ziel, ein Restaurant zu eröffnen. Über ein Viertel der Bevölkerung lebt dort unter der Armutsgrenze, ein Drittel ist arbeitslos. Aber: Das Land verfügt über eine gigantische, unerforschte Biodiversität. «In Bolivien sucht die Jugend nach Zugehörigkeit, nach Identifikation, nach Gemeinsamkeit, nach etwas, worauf man stolz sein darf. In den vergangenen 150 Jahren hat das Land nicht nur jeden Krieg verloren, sondern auch viele, viele, viele Fussballspiele», albert Meyer ironisch.
In La Paz eröffnete er das «GUSTU». Es wird von Michelangelo Cesari und Kamilla Seidler geführt. Im vergangenen Jahr wurde letztere zur besten Köchin Lateinamerikas erkoren. Ihr Restaurantteam besteht aus 50 jungen Menschen aus den Slums von La Paz, ihre Mission darin, den Kids alles mit auf den Lebensweg zu geben, um dereinst als Mikrounternehmer auf eigenen Beinen zu stehen. Auf der Speisekarte finden sich ausschliesslich Gerichte aus lokalen Produkten. Ehrgeizig arbeitet das Team daran, das immense Potenzial der Zutaten auszuschöpfen. Claus Meyer zieht mit leuchtenden Augen eine Zwischenbilanz: «‹GUSTU› konnte sich etablieren. Letztes Jahr landete es im Ranking der besten lateinamerikanischen Restaurants auf Platz 16. Nach den ersten vier Jahren haben 52 junge Menschen ihre Ausbildung bei uns abgeschlossen. Fünf davon haben in La Paz ihr eigenes Restaurant eröffnet.»
Enthusiastisch schwärmt der Gastronom von zwölf kleinen Organisationen, die direkt in den Slums von La Paz für köstliches Essen sorgen. Eine Train-the-Trainer-Initiative, ausgehend vom «GUSTU», macht’s möglich. «So bildeten wir bis heute 1 600 junge Menschen aus den Slums aus. Sie versorgen die Nachbarschaft mit Ein-Dollar-Gerichten, zubereitet aus lokalen, bolivischen Zutaten.» Natürlich hat die Medaille auch eine Kehrseite. Es gab und gibt unzählige Hürden zu überwinden, und bis heute bedarf das Projekt pekuniärer Unterstützung seitens der Foundation. Doch Meyer ist überzeugt: Der Einsatz lohnt sich. Und wenn er in der «New York Times» liest, dass Staatspräsident Evo Morales «GUSTU» als einen der drei Hauptgründe für einen Bolivienbesuch nennt, ist dem leidenschaftlichen Foodaktivisten der Stolz anzusehen.
Auf verschlungenen Pfaden führte das Bolivienprojekt Meyer in die Vereinigten Staaten, wo er heute mit seiner Familie («Ich habe drei Töchter, eine Ehefrau und zwei Hunde …») lebt. Ein Unternehmer wurde auf Meyer aufmerksam und bot ihm an, ein Projekt in Midtown Manhattan zu realisieren. In einem der bekanntesten Gebäude der USA, dem Grand Central Terminal, verwirklichte Meyer auf einer 1’400 Quadratmeter grossen Fläche eine Lebensmittelhalle mit nordischer Küche und einem Gourmetrestaurant namens «AGERN». Das nennt er den Fun Part. Er wollte jedoch mehr, wollte seinem Umzug nach New York einen Sinn geben. Also machte er sich auf die Suche nach einer neuen Herzensaufgabe. In Brownsville, Brooklyn, fand er, was er suchte: ein lebendiges Viertel mit gewachsenem Engagement der Bewohner, das jahrzehntelangen Investitionsabbau und Marginalisierung überdauert hat. Der typische Kreis von Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Kriminalität überdeckt die Stärken und Schönheiten des Viertels, und Meyers Team unterstützt die bestehenden Bemühungen, das Leben hier zu verbessern. Zusammen mit den Bewohnern hat Meyer eine Kochschule, ein Café und eine Bäckerei gegründet. Im Rahmen seines Programms werden ca. 50 Teilnehmer pro Jahr bei der Entwicklung eines Lebensentwurfs entsprechend ihrer Wünsche und Träume unterstützt, ausgebildet sowie auf Stellen vermittelt. «Wir wollen ein grossartiges Restaurant eröffnen; nicht für Touristen, sondern für die Einwohner.» Mit skandinavischem Essen? Diese Idee verwirft er. «Die Wurzeln der Bewohner liegen in Afrika und Lateinamerika. Was liegt also näher, als die Küche dieser Regionen in ihrer riesigen Bandbreite anzubieten?» Wohin es ihn auf seiner jüngsten Expedition ins unendliche Reich der Kulinarik verschlagen wird, weiss er nicht. Aber er weiss, dass er seine Odyssee fortsetzen wird – neugierig, wissenshungrig und mit der Mission, etwas zu verändern.
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