«Master Coffee» – der aus Kaffee Kunst erschafft
Eine Begegnung mit ihm ist wie eine Weltreise. Er war Knast- und Ordensbruder, erfolgreicher Unternehmer und brotloser Künstler. Sein Leben ist voller Kontraste, Brüche und Neuanfänge. Doch eine Konstante begleitet ihn seit frühester Jugend: Kaffee.
Schwarzwald im Frühling. In seinem gemütlichen Wohnatelier fläzt sich Marcel Wagner in einen Polstersessel, der nun fast wie ein Thron wirkt. Vor ihm steht, zum Salontisch umfunktioniert, ein alter Überseekoffer, darauf eine grosse Tasse frisch gebrühten Kaffees, dessen Duft den gesamten Raum erfüllt. Links und rechts recken Staffeleien, die mit Zeitungsartikeln beklebte Leinwände auf Arbeitshöhe tragen, zur Decke. Auch wenn die Kunstwerke noch nicht vollendet sind, kann man darauf Berühmtheiten erkennen, mit Kaffee zart getüncht in warmen Brauntönen. Am Boden stapeln sich kleinere Bilder nach dem gleichen Prinzip; in einer Ecke gibt das Holztäfer der Dachschräge einem Porträt von Picasso Halt. «Master Coffee», wie er sich nennt, lässt seinen Gästen viel Zeit, die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Schweigen bereitet ihm keine Mühe. Sein Leben bot ihm viele Möglichkeiten, es zu lernen: im Kloster, im Gefängnis, in Tibet, in der einsamen Stille seiner aktuellen Klause. Aber er ist auch ein begnadeter Erzähler, der seine Zuhörer mit Geschichten und Anekdoten aus seiner Biografie zu fesseln weiss.
Auf die Frage, weshalb es ihm der Kaffee so angetan habe, erstrahlt in seinem grossen Gesicht ein Lächeln. «Die ersten Erinnerungen an Kaffee gehen auf meine Kindheit zurück. Meine Mutter stammte aus gutem Haus. Für sie war es undenkbar, morgens aufzustehen, um uns Jungs zu verpflegen. Vielmehr liess sie sich von mir jeweils ihr Frühstück ans Bett servieren: einen Kaffee – stark – und zwei Zigaretten – Kent. Mutter war äusserst wählerisch, was Kaffee anbelangte, und so kam auch ich schon früh auf den Geschmack.»
Wagners Nomadenleben dürfte seine Wurzeln ebenfalls in der Kindheit haben. «Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr sind wir elf Mal umgezogen. Mein Vater war Automechaniker und fuhr Rallyes. Damals wurden die Piloten verschiedenen Garagen zugewiesen, wo sie unter der Woche ihren Lebensunterhalt verdienten und am Wochenende ein Auto zur Verfügung gestellt bekamen, um Bergrennen zu fahren. Mit den Garagen wechselte jeweils auch unser Wohnort.» Die Primarschule besuchte er im aargauischen Uerkheim. «Mein Vater stammte aus Bayern. Das machte uns zu Exoten. Auch dann noch, als sich meine Eltern einbürgern liessen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Grossvater eines Schulkollegen mit einem Holzscheit nach mir warf, weil wir ‹Ausländer den Einheimischen die Frauen ausspannen›.» Er fasst sich nachdenklich an den Kopf, dann klopft er sich auf die Brust. «Manchmal tut es heute noch weh …»
Eines Tages klopfte er unversehens an die Klosterpforte und erkundigte sich nach dem Ordensleben.
So engstirnig die Denke einiger Nachbarn sein mochte, so offen war man in Marcels Elternhaus. Es wurde ein reger Kontakt zu bildenden Künstlern gepflegt, und diese bescheinigten dem Spross ein ausserordentliches Zeichentalent, das auch seinen Lehrern auffiel. Oft liessen sie ihn an der Tafel Stoff aus dem Unterricht illustrieren – nicht nur, weil er künstlerisch begabt war, sondern auch, weil er von dort vorne den Unterricht weniger stören konnte. Seine Kunst zeigte er schon in jungen Jahren öffentlich. Mit sechzehn lud er zu seiner ersten Ausstellung ins Bahnhofbuffet Olten.
«Meine Eltern waren vielseitig interessiert, einzig Religion gab es bei uns nicht.» Vielleicht weckte genau dieser Umstand Wagners Neugier. Eines Tages klopfte er unversehens an die Pforte des Kapuzinerklosters Olten und erkundigte sich nach dem Leben hinter den Klostermauern. Einem langen Gespräch folgte die Einladung, während eines Postulats das Ordensleben kennenzulernen. «Ich war fasziniert – vor allem von der wunderbaren Bibliothek mit ihren Schätzen an handgeschriebenen Büchern. Und ich war begeistert vom Leben und Wirken des heiligen Franziskus.» Um sich zu entscheiden, ob ein Leben als Mönch das Richtige für ihn wäre, brach der mittlerweile Neunzehnjährige auf ins Flüeli-Ranft, die Heimat des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe. «Ich fragte mich intensiv, ob ich tatsächlich für ein Ordensleben mit all seinen Regeln berufen war. Das Einzige, was ich wusste, war, dass alles, was ich tue, Sinn machen und Sinn spenden sollte.» Prägend für die Sinnsuche waren Gespräche mit dem indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti, den Wagner durch Zufall kennengelernt hatte.
«Kurz darauf folgte der erste komplette Bruch in meinem Leben. Ich verweigerte den Militärdienst und stellte mich damit gegen das System. Das hatte auch einen Zwist mit meinem Bruder zur Folge, welcher bei der Armee eine Ausbildung machte und eine Militärkarriere anstrebte.» Die Militärdienstverweigerung brachte Marcel Wagner sechs Monate Gefängnis ein. «Es war die schönste Zeit in meinem jungen Leben. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, wurde verpflegt, musste keine Verantwortung übernehmen, konnte malen und in den Sozialstunden alte Leute betreuen. Wunderbar!»
Einer dieser Senioren war ein Musiker, der im Rollstuhl sass. «Ich fuhr ihn zur Kirche, wo er die Orgel spielen durfte. Wir freundeten uns an, und er erzählte mir von seiner Zeit in Indien, wo er als Pianist in einem Hotel in Mumbai gearbeitet hatte und sogar eingeladen worden sei, im Aschram vor Gandhi zu spielen. Er riet mir, nach Indien zu gehen; das sei genau das Richtige für mich.» Aus ursprünglich geplanten drei Monaten wurden drei Jahre. «Ich sog Neues auf wie ein Schwamm, erlernte die orientalische Miniaturmalerei. Es war eine Zeit voller wertvoller Begegnungen mit spannenden Menschen.» Einer von ihnen war ein französischer Religionswissenschaftler, dem Wagner nach Dharamsala folgte. «Dort, im Exil vieler Tibeter, lernte ich Vertraute, den Leibarzt des Dalai Lama und schliesslich sogar seine Heiligkeit persönlich kennen.»
Marcel Wagner versteht es, mit Worten in den Köpfen seiner Zuhörer lebendige Bilder entstehen zu lassen. So formt sich vor dem geistigen Auge eine schwimmende Stadt, als er von den rund sechstausend Hausbooten im englischen Kolonialstil erzählt, die er im kaschmirischen Sringar sah. Für seinen Lebensunterhalt gab er Kindern Englischunterricht. «Bei meiner Rückkehr in die Schweiz erlebte ich einen regelrechten Kulturschock. Alles war so schnell und hektisch. Ganz besonders fiel mir auf, dass die Leute permanent auf die Uhr schauten. Mein Willkommensessen konnte ich überhaupt nicht geniessen. Zu viel Armut und Hunger hatte ich in den vergangenen Jahren gesehen, um mit dem Überfluss hier zurechtzukommen.»
Als Hilfsbetreuer in einem Pflegeheim für geistig und körperlich behinderte Menschen fand Marcel Wagner eine Anstellung. «Das war unglaublich bereichernd, weil die Aufgabe sowohl den Heimbewohnern als auch mir Sinn und Struktur gab. Ich fühlte, dass ich diesen Weg weitergehen und mein Helfer-Gen mit meiner Liebe zur Kunst unter einen Hut bringen wollte.» So liess er sich berufsbegleitend zum Kunsttherapeuten ausbilden. Wagner schwebte vor, fortan alle kreativen Mittel zu verwenden, um Menschen zu mobilisieren. Und er wollte dazu seine eigenen Ideen und Vorstellungen verwirklichen. «In einer etablierten Institution war das nicht möglich. Also hatte ich zwei Optionen: Ich konnte aufhören oder mich selbstständig machen.»
Er entschied sich für den steinigeren Weg. «Was mir vorschwebte, war eine Art Entlastungs- und Ferienheim für Kinder, ein Kriseninterventionszentrum, welches Kindern in schwierigen familiären Situationen eine Anlaufstelle bot.» Mit dieser Vision im Kopf wurde er bei der Jugendanwaltschaft Aargau/Solothurn vorstellig. Dort stiess seine Idee auf offene Ohren. Der erste Jugendliche, den man seiner Obhut anvertraute, war ein besonders schwieriger Fall. Obwohl erst sechzehnjährig, hatte er schon fünfzehn Platzierungen hinter sich, und kein Heim war mehr bereit, ihn aufzunehmen. «Der Junge sollte zu meinem Prüfstein werden», erinnert sich Marcel Wagner. «Der Weg zu seinem Herzen führte über den Magen. Ich fragte ihn, was er essen möchte. ›Bratwurst und Bier‹, kam es wie aus der Kanone geschossen. Also ging ich mit ihm ein Bier trinken und eine Bratwurst essen. Das verblüffte ihn. Einen Betreuer, der ihm ein Bier ausgibt, hatte er noch nie erlebt. Die nächste Zeit ernährten wir uns dann in erster Linie von Bratwürsten. An die 150 Stück verbrauchten wir im Monat und bereiteten sie auf die unterschiedlichsten Arten zu. Ich glaube, unsere Bratwurstrezepte würden ein ganzes Kochbuch füllen», witzelt er mit einem breiten Lachen im Gesicht.
Der Bedarf an Betreuungsplätzen war gross und Wagners Real-Pädagogik zeitigte beachtliche Erfolge. Er verstand es, die Talente der Jugendlichen zu fördern und sie in die Selbstständigkeit zu begleiten. Dazu gründete er Mikrofirmen, in die sie sich einbringen konnten. «Eine feste Tagesstruktur ist wichtig. Aber auch das Übernehmen von Verantwortung für andere. Und wie könnte man das besser üben als mit Tieren?» Bald umfasste der Tierbereich Pferde, Ziegen und Hunde. «Als Fuhrhalter boten wir unsere Dienste für Holzräumarbeiten im Wald an. Mit den Pferden fuhren wir auch für eine lokale Brauerei Bier aus. Diese schenkte uns einen alten Bierfasswagen. Was jetzt noch fehlte, war unser eigenes Bier.» Gesagt, getan. Marcel Wagner belegte einen Braukurs und versuchte sich in der Kunst des Bierbrauens. «Es war untrinkbar! Also stellte ich einen Brauer an.» Das war die Geburtsstunde des «Hufklang-Biers». Der Erfolg des Projekts ermutigte Wagner, immer neue Mikrofirmen zu gründen. «Ein Jugendlicher war der geborene Verkäufer. Was lag also näher, als einen Laden zu eröffnen?» Darin wurden Waren aus eigener Produktion feilgeboten: Kerzen aus der Kaltgiesserei etwa, oder Kinderspielzeug aus der Schreinerei. Eine Oldtimer-Werkstatt brachte Fahrzeuge aus vergangenen Tagen wieder auf die Strasse. Ein weiteres Standbein war die Gastronomie. So zählten bald auch ein Restaurant und eine Met-Bar zu den Betrieben. «Zehn Jahre wollte ich mein Konzept ursprünglich durchziehen. Das Ziel habe ich nicht ganz erreicht. Nach neuneinhalb Jahren beendete ich das Projekt, übergab die Betriebe oder löste sie auf.»
«Ein Bild wird erst dann zur Kunst, wenn Menschen eine Beziehung dazu aufbauen.»
Wagner schwebte etwas Neues vor: Die Eröffnung einer Galerie mit kunsttherapeutischen Angeboten. Aus dem Traum wurde nichts. Ratlos begab er sich auf eine lange Reise nach Asien. «Thailand bot sich als Destination an, weil dort die Lebenshaltungskosten niedrig sind. Ich hatte meine Malerei, wusste aber durchaus, dass man davon nicht leben kann. Ich erhielt das Angebot, in Nordthailand ein Wandbild zu malen, und schlug mich mit allerlei Auftragsmalerei durch.» Es folgten verschiedene Ausstellungen, vornehmlich in Europa, was ihn vor fünf Jahren dazu veranlasste, in die alte Heimat zurückzukehren. Hier perfektioniert er heute seine Kaffeemalerei und experimentiert mit Farben aus Gewürzen wie Safran oder Kurkuma. Obwohl er auf Zeitungen malt, liest er sie nur ungern. «Ich finde es viel spannender, in der Flüchtigkeit des Durchblätterns Inspiration zu finden und den Augenblick zu erhaschen, der Aufmerksamkeit bringt», sagt er.
«Ein Bild hat in sich null Wert. Erst wenn es Menschen betrachten, sich mit ihm auseinandersetzen und eine Beziehung dazu aufbauen, wird es zur Kunst», ist er überzeugt. Damit dies hautnah erlebt werden kann, bringt er seine Bilder mit dem mobilen Kunstkaffee zu den Menschen. «Im Kontrast zu einer klassischen Galerie kommen nicht die Leute zu mir, sondern ich gehe zu den Leuten.» Dort kann man ihm beim Arbeiten über die Schultern schauen. Über seine Social-Media-Kanäle hat sich «Master Coffee» vielerorts einen Namen gemacht. So erreichen ihn aus aller Welt Aufträge für Porträts von Musikern bis hin zu Rennpferden. Auch Bars oder Frisörsalons hat er schon mit seinen Bildern gestaltet.
Bedächtig schlürft Marcel Wagner den letzten Schluck Kaffee aus der Tazza, bevor er verrät, woran er aktuell arbeitet: «Skulpturen aus Kaffeesatz.» Man darf also gespannt sein auf so vieles, was noch kommen wird von dem Mann, der sich, sein Leben und seine Kunst immer wieder aufs Neue erfindet.
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