Die Leihmutter oder: «Lass ihn uns Christiano nennen...»
«Ich brauche ein Kind», entschied sie spontan.
«Dann lass uns eins machen», antwortete ihr Gatte stoisch.
«Was ich brauche, ist ein Kind, aber keine Schwangerschaft. Jetzt, wo die Verhandlungen mit den asiatischen Investoren so weit fortgeschritten sind, ich alle paar Wochen um den Globus jetten muss und die ‹Schweizer Postille› meine Ferien unter der Headline ‹100 Mails am Tag – im Büro merkt niemand, wenn ich weg bin› gross rausbringt, kann ich mir einen Babybauch nicht leisten.»
«Dann lass uns halt eins adoptieren», schlug er vor, ohne von seinem Fachbuch aufzusehen.
«Ein fremdes Kind? Nie!», intervenierte sie.
Endlich unterbrach er die Lektüre kurz, schob die randlose Brille mit geübter Bewegung richtig auf die Nase, zog die Brauen hoch und meinte: «Dann lass es doch austragen.»
«Eine Leihmutter?», fragte sie überrascht.
«Natürlich. Du wärst ja nicht die Erste, die Schwangerschaft und Geburt outsourced. – Weiss Gott nicht…» Er schmunzelte ob seiner Randbemerkung. «Irgend so ein armes, junges Ding kann etwas Geld immer gut gebrauchen. Ist das Kind da, gestehe ich einen Seitensprung, anerkenne die Vaterschaft, wir adoptieren es, du hast dein Kind, sie hat ihr Geld, alle sind glücklich, Punkt.»
«Hast Recht», befand sie. «Lass uns Maria nehmen.»
Er nickte.
Maria war ihre Haushalthilfe. Die beiden kannten sie schon seit ihrer Kindheit. Ihre Eltern hatten jahrelang als Abwartspaar im Hauptsitz von Daves Firma zum Rechten geschaut, bevor sie vor zwei Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Maria wollte es ihnen gleichtun, wenn sie dereinst genügend Geld zur Seite geschafft hatte, um José, einen mittellosen, aber begabten andalusischen Holzbildhauer zu heiraten und mit ihm eine Familie zu gründen.
Der angebotene Betrag schien eine geradezu hypnotische Wirkung auf Maria auszuüben, als die Hartmanns bei reichlich kalifornischem Rotwein mit ihr über die Leihmutterschaft sprachen. In nur neun Monaten sollte sie genügend Geld verdienen, um mit ihrer grossen Liebe ein neues Leben beginnen zu können.
Hartmanns Firma pflegte gute Kontakte zu einem Reproduktionsmediziner, dessen Forschungen sie auf intransparentem Weg unterstützte, und der deshalb gerne bereit war, eine In-vitro-Fertilisation vorzunehmen, wenn im Gegenzug unsaubere Finanztransaktionen, die ihn und seine Klinik hätten diskreditieren können, nicht Gegenstand des öffentlichen Interesses würden. Er war ein Meister seines Fachs; bereits beim ersten Versuch trug seine Arbeit Früchte.
Den Grossteil der Schwangerschaft verbrachte Maria bei ihren Eltern und José in Spanien. Anfänglich waren die besorgten Anrufe der Hartmanns noch zahl- und wortreich, gegen Mitte November aber verstummte das Telefon eigentümlicherweise. Mit jedem Tag, an dem in Maria neues Leben heranwuchs, wuchsen auch ihre mütterlichen Gefühle für das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, Gefühle, gegen die sie nicht ankämpfen konnte und wollte. Der Gedanke, das Neugeborene weggeben zu müssen, es nicht jeden Tag in ihre Arme schliessen zu können und es beim Aufwachsen nicht begleiten zu dürfen, schwebte wie ein Damoklesschwert über ihr. Anfang Dezember erwog sie die Möglichkeit, nie wieder zurückzukehren und hier in Spanien mit ihrem Kind unterzutauchen. Doch Maria war nicht wortbrüchig. Kurz vor dem errechneten Geburtstermin reiste sie, begleitet von José, zurück in die Schweiz. Da die versprochenen Flugtickets nie bei ihr angekommen waren, fragte sie einen befreundeten Trucker nach einer Mitfahrgelegenheit in seinem 40-Tonnen-Lastesel.
Der Portier der Privatklinik hatte sich auf einen beschaulichen Abend eingestellt. Am 24. Dezember war in der Regel wenig los. Die meisten Patienten waren rechtzeitig entlassen worden, um Weihnachten im Kreise ihrer Familien zu verbringen. Umso mehr staunte er, als am Nachmittag vor der Hauptpforte ein riesiger Früchtetransporter, schnaubend und keuchend wie ein Marathonläufer nach der Volldistanz, Halt machte. Ihm entstiegen eine in den Wehen liegende junge Frau und ein besorgter Mann.
Von draussen drang Glockengeläut in den Kreisssaal, als Maria um Schlag Mitternacht einen gesunden Jungen zur Welt brachte, der seine Ankunft auf Erden mit kräftigem Schreien verkündete. Unter Tränen schloss sie ihn in die Arme, fest gewillt, ihn nie wieder loszulassen. Für einen Augenblick schien das Universum stillzustehen, und es fühlte sich an, als begänne für alle Beteiligten eine neue Zeitrechnung.
Der magische Moment fand durch das laute Seufzen der automatischen Schiebetür ein jähes Ende. Der Klinikleiter trat ein, nervösen Blickes, unrasiert, mit offenem Hemd im Strassenanzug, eskortiert von zwei Polizeibeamten. Er erzählte, er und die Hartmanns sässen seit geraumer Zeit wegen illegaler Geschäfte in Untersuchungshaft. Als ihn die Beamten mit Blicken zum Gehen aufforderten, beugte er sich über die junge Mutter und flüsterte ihr zu: «Es ist Ihr Sohn. Verstehen Sie? Ihrer. Als ich die Befruchtung vornehmen sollte, waren Sie bereits schwanger.»
«Ein Weihnachtswunder», sagte Maria lächelnd zu José, «ein richtiges Weihnachtswunder. – Lass ihn uns Christiano nennen…» Er nickte freudig.
Als die beiden mit ihrem Jungen ein paar Tage später die Klinik verliessen, hatte eine frische, pulvrige Schneeschicht die gesamte Landschaft entfärbt. Einzig Licht gab es, etwas Schatten, stahlblauen Himmel und das Weiss einer unberührten, stillen Welt. Gemeinsam wagten sie die ersten Schritte, gleichmässig parallele Spuren hinterlassend. Zurück blickten sie nicht, nur sich gegenseitig tief in die Augen und in die Weite, die sich vor ihnen auftat...